Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
220 Innere Medizin. X. Buch. 
  
Die Kenntnis der so außerordentlich wichtigen Er- 
krankungen des Blutes ist durch eine Verbesse- 
rung der mikroskopischen Untersuchungs- und Färbetechnik ungeahnt vorangeschritten. 
Man hat die verschiedenen Formen der weißen Blutkörperchen zu unterscheiden ge- 
lernt, so daß man heute wichtige Schlüsse daraus zu ziehen vermag. Such die Metho- 
den zur Bestimmung des Blutfarbstoffes, der Zählung der einzelnen Zellen wurden 
beträchtlich verbessert. Am meisten ist dadurch die Kenntnis der Leukämie und Pseudo- 
leukämie, welche meist mit einer außerordentlich starken Bergrößerung der Milz einher- 
gehen und die Lehre von den Anämien (Blutarmut) und der Veränderung des Blutes 
bei Infektionskrankheiten gefördert worden. 
Erkrankungen des Blutes. 
  
Die Nervenkrankheiten sind seit fast 50, besonders aber 
auch in den letzten 530 Jahren von den Arzten der Kultur- 
völker einem so intensiven Studium unterworfen worden, daß die Neurologie ein 
schier fast unübersehbares Gebiet geworden ist; sie ist eines der bedeutendsten Spezial- 
fächer der Medizin. Neben der llinischen Beobachtung verdankt sie ihre Höhe erstens 
der eifrigen mikroskopisch-anatomischen Untersuchung, welche durch glänzende Färb- 
methoden z. B. die Weigertsche Färbung der Nervenfasern ganz hervorragend unsere 
Kenntnis der Nervenkrankheiten gefördert hat; zweitens der großen, genialen Methodik 
der Lumbalpunktion, entdeckt von H. J. Quincke, früher Professor in Kiel, jetzt 
in Frankfurt lebend, einem der größten deutschen Gelehrten und Forscher, (außer der 
Lumbalpunktion hat er als erster die Lungenchirurgie in Angriff genommen, wertoolle 
Arbeiten über den Eisenstoffwechsel, Blutkrankheiten, Nervenkrankheiten, Schimmel- 
pilze, Herzkrankheiten gemacht). Mit bis dahin unerhörter Kühnheit punktierte er 
bei einem an Wasserkopf leidenden Kinde mittels einer Nadel den Rückenmarkskanal 
und ließ die Rückenmarkeflüssigkeit ab. Die Methode ist heute Allgemeingut der Trzte; 
sie hat die Phosiologie und Pathologie der „Lumbalflüssigkeit“", die Lehre vom Hirn- 
druck ganz außergewöhnlich gefördert; die Diagnose der Gehirn- und Rückenmarks- 
hautentzündungen, vieler anderen Nervenkrankheiten, die chemische, bakteriologische 
und Zellenuntersuchung der Lumbalflüssigkeit ist dadurch erst möglich geworden. In 
therapeutischer Hinsicht hilft sie vielfach in glänzender Weise. Durch Einführung 
von narkotischen Mitteln, z. B. Kokainlösungen, in den Lumbalkanal gelang Bier 
die Unempfindlichmachung von den unteren Teilen des Körpers, so daß z. B. 
schwerste Operationen ohne allgemeine Narkose ausgeführt werden konnten. Quinckes 
Name wird als einer der großen Pfadfinder in die Geschichte der Medizin einge- 
tragen sein. 
Drittens führte die ätiologische Forschung zu beträchtlichen Fortschritten in der Neu- 
rologie. Der Nachweis des Syphiliserregers und die serologische Reaktion nach Wasser- 
mann brachten Klarheit in viele unklare Prozesse. 
Die verbreitetste organische Nervenkrankheit, die Rückenmarksschwindsucht, ist ebenso 
wie die verbreitetste Gehirnkrankheit, die Paralyse, spphilitischer Genese. Der große Neu- 
rologe Erb, welcher seit Dezennien diese Lehre vertrat, hat am Schlusse seines unge- 
Nervenkrankheiten. 
  
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