X. Buch. Die Entwlcklung der Chirurgie. 231
heilkunde, in ihrer heutigen Vollendung erst geschaffen. Fast alle #Arten der Lokal-
anästhesie, über die wir zurzeit verfügen, sind schon sehr bald nach Entdeckung des Ko-
kains angewandt worden, sie gerieten wieder in Vergessenheit, weil das Kokain sich als
ein Präparat von beträchtlicher, vor allem aber gänzlich unberechenbarer Giftigkeit er-
wietz. Deshalb wird es heute fast nur noch zur Anästhesierung von Schleimhäuten benutzt,
auf die es einfach aufgepinselt zu werden braucht; die höchst wirksame Einspritzung des
Kokains dagegen ist verlassen worden, weil die chemische Industrie uns Mittel an die
Hand gegeben hat, welche dem Kokain an Wirksamkeit gleichkommen, seine Giftigkeit
aber nicht entfernt erreichen.
Damit war ermöglicht, weit größere Mengen des Anästhetikums zu injizieren, und
es konnte dazu übergegangen werden, nicht nur lleine Eingriffe, sondern große, ja die
größten Operationen in Lokalanästhesie vorzunehmen. Während früher die sogenannte
lleine Chirurgie die Domäne der örtlichen Schmerzstillung war, werden heute alle Bruch-
und Kropfoperationen, zahlreiche Eingriffe an Gehirn und Rückenmark, an den Bauch-
und Brustorganen, ja bis zu 40 und 50 Prozent sämtlicher Operationen ohne allgemeine
Narkose ausgeführt, wodurch die Gefahr des operativen Eingriffes eine weitere erheb-
liche Herabsetzung erfahren hat. Die Kenntnis dieser Tatsache ist bereits so weit ins
Publikum gedrungen, daß die Patienten sehr oft von sich aus die Forderung der Lokal-
anästhesie stellen. Um die psochische Beteiligung des Patienten auszuschalten oder wenig-
stens nach Möglichkeit zu vermindern, wird die beruhigende Wirkung des Morphiums
oder eines verwandten Mittels zu Hilfe genommen. Auch die Kombination der Lokal-
anästhesie mit der oben erwähnten Rauschnarkose kann von Vorteil sein.
Novokain — Nebennierenpräparate. Unter den zahlreichen Ersatzmitteln des
Kokains ist am wichtigsten das von den
Höchster Farbwerken hergestellte Novokain, welches dem Eukain, Stovain, Tropakokain
und vielen anderen Präparaten durch die sehr geringe Giftigkeit, durch das Fehlen rei-
zender und gefäßerweiternder Eigenschaften überlegen ist. Die Wirkung aller örtlich
wirkenden Anästhetika aber vermögen wir heute dadurch außerordentlich zu steigern, daß
wir nach dem Vorschlage von Heinrich Braun der einzuspritzenden Lösung in ganz ge-
ringen Mengen das aus tierischer Nebennierensubstanz hergestellte Suprarenin oder
Adrenalin hinzufügen. Diese Nebennierenpräparate haben, wie das Tierexperiment
gelehrt hat, gefäßverengernde Eigenschaften. Da die Blutgefäße in erster Linie die Auf-
saugung der injizierten Lösung besorgen, so mußte die Zufügung von Suprarenin zur
Folge haben, daß das Anästhetikum länger an Ort und Stelle verbleibt, also intensiver
örtlich wirkt, während es gleichzeitig langsamer in den Kreislauf gelangt, also eine denk-
bar geringe allgemeine Giftwirkung entfaltet.
Infiltrationsanästhesie. Für die Imzektion der anästhesierenden Flüssigkeit,
also vor allem der ½—2 prozentigen Novokainlösung
mit Suprareninzusatz, sind verschiedene Methoden im Gebrauch. Großes Aufsehen
hat seinerzeit die im Jahre 1892 von Schleich bekannt gegebene Infiltratione-
anästhesie gemacht, weil sie uns zum ersten Male in den Stand setzte, die zur Aus-
fübrung großer Operationen unbedingt nötigen reichlichen Mengen des Anästhetikums
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