Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
260 Oie soziale Medizin und soziale Hygiene. X. Buch. 
  
hunderts, aber erst in den letzten beiden Zahrzehnten haben sie eine selbständige Entwick- 
lung erfahren und eine große Bedeutung erlangt, welche leider von den medizinischen 
Fakultäten und unter deren Einfluß von dem Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und 
Medizinalangelegenheiten nicht genügend gewürdigt wird. Biele Schwierigkeiten und 
Schädigungen sind aus dieser Tatsache den Interessenten der sozialen Gesetzgebung und 
dem Allgemeinwobhl erstanden, die erst mit der spstematischen Ausbildung aller Trzte 
auf diesem Gebiet schwinden werden. 
Die Entwicklung der sozialen Medizin 
(im engeren Sinn). 
« Ohne daß eine entsprechende Ausbil- 
Umgestaltung der ärztlichen Tätigkeit. dung der Arzte auf dem Gebiet der so- 
zialen Gesetzgebung mit ihren neuen Anforderungen statt gehabt hatte, traten die Gesetze in 
Kraft. Es ist naturgemäß, daß die völlige Umgestaltung der ärztlichen Tätigkeit, welche 
zwischen den hilfesuchenden Kranken und den Arzt die Mitwirkung der gesetzlichen Träger 
der Versicherung (Krankenkassenvorstand, Berufsgenossenschaften, Bersicherungsanstalten) 
einschob, die Lebensinteressen des ärztlichen Standes eingehend berührte. Diese Tat- 
sache machte sich um so stärker geltend, je mehr die Zahl der Klienten der sozialen Ver- 
sicherung anstieg. Sie trat am intensiosten bei der Krankenversicherung in Erscheinung. 
Hatten die Arzte früher vielfach die kassenärztliche Tätigkeit im Nebenamt ausgeübt, 
so zeigte die Entwicklung, daß diese Tätigkeit vielfach zum Hauptamt wurde, und daß 
neben einer übermäßigen Znanspruchnahme einzelner Kassenärzte die Mehrzahl der 
jüngeren Arzte keine Beschäftigung fand. 
So entwickelte sich in Trztekreisen, welchen diese Nachteile zuerst auffielen, eine ge- 
wisse Unzufriedenheit mit den Folgen der Krankenversicherung. Diese Unzufriedenheit 
wuchs durch manche Vorkommnisse bei den Kassen. Veranlaßt durch die große Zahl 
wenig beschäftigter Ärzte bemühten sich einzelne Kassenvorstände, die Ausgaben für ärzt- 
liche Behandlung möglichst herabzudrücken, bei anderen Kassenvorständen ergaben Ge- 
richtsverhandlungen, daß sie Kassenarztstellen gegen Bezahlung abgaben, daß ein Zehntel 
des ärztlichen Honorars in die sozialdemokratische Parteikasse abgegeben werden mußte 
(Altona). Auch anderweitige Beeinflussung der Kassenärzte wurde versucht, so daß ein- 
zelne schwache Charakter unter den Arzten der sozialdemokratischen Partei beitraten. 
Gerichtsverhandlungen ergaben außerdem, daß gut bezahlte Stellen an Kassen nicht wegen 
der Leistung für die Krankenkassen, sondern als Belohnung wegen agitatorischer Tätig- 
keit für Parteizwecke verliehen wurden. Auch Verschwendung und anderweitig ungesetz- 
liche Berwendung von Kassengeldern kam nicht selten vor. Die Stellung der Kassen als 
Organe der Selbstverwaltung machte ein staatliches Eingreifen sehr schwer. 
  
Die deutschen im Arztevereinsbund vereinigten Arzte 
Leipzi Verband. 
eipziger Berban versuchten zunächst durch Petitionen an die Behörden 
  
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