Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
266 Die soziale Medizin und soziale Hygiene. TX. Buch. 
  
Für derartige Fälle sind Modifikationen des Strafgesetzbuchs im Hinblick auf ärzt- 
liche, dem Heilzweck dienende Operationen oder eine andere Znterpretation des be- 
stehenden Rechts dringend erwünscht. 
Die Entwicklung der sozialen Hygiene. 
Der Ausbau der sozialen Hygiene ist im wesentlichen unter der NRegierung Kaiser 
Wilhelms ll. erfolgt, wenn auch wichtige Anfänge schon früher vorhanden waren. Ourch 
das Gesetz vom 8. April 1874 war die segensreiche Schutzpockenimpfung in ausge- 
dehnterer Weise eingeführt worden, die Gewerbeordnung für den Norddeutschen 
Bund vom 21. Juni 1869 mit einer Anzahl folgender Novellen enthielt schon einzelne 
Verordnungen zum Schut der Arbeiter; vor allem muß dem Gesetz über den Verkehr mit 
Nahrungsmitteln, Genußmitteln und Gebrauchsgegenständen vom 14. Mai 1879 
und 29. Juni 1887 ein Einfluß auf die Gesundheitspflege zugeschrieben werden. 
Aber erst eine spstematische Zusammenfassung aller 
Aufgaben in den letzten Jahrzehnten, insbesondere 
auch die Bekämpfung der übertragbaren Er- 
krankungen, die energischen Maßnahmen zum Schutz der Arbeiter in gesundheitsgefährlichen 
Betrieben haben der sozialen Hygiene praktische Erfolge errungen, die zu hoffen niemand 
gewagt hatte. Diese Fortschritte veranschaulicht am besten eine Zusammenstellung der 
Sterbefälle auf 1000 Einwohner, in den verschiedensten Zeitabschnitten. Während bis 
zum Jahre 1880 die Sterblichkeit in Deutschland zwischen 25 und 30% ° pr Jahr schwankte, 
setzte in den folgenden zehn Fahren ein langsamer Rückgang auf 21,9%, in den Jahren 
1901—1909 ein solcher auf 18,6 % 0 ein. Diese Abnahme ist langsam fortschreitend erfolgt; 
im Zahre 1910 betrug sie nur 17,1% 0 auf 1000 Einwohner und befindet sich noch im 
Sinken. Sie hat an einzelnen Orten schon 15 pro Mille erreicht. Dementsprechend 
läßt sich auch heute schon eine Verlängerung des durchschnittlichen menschlichen Lebens 
feststellen. Es betrug die mittlere Lebensdauer in den Jahren 1871—1880 für Männer 
35,58 Zahre, für Frauen 38,45 Jahre; in den Fahren 1881—1890 für Männer 37,17 Jahre, 
für Frauen 40,25 Fahre; in den Fahren 1891—1900 für Männer 40,6 Zahre, für Frauen 
43,9 Jahre. Auch im letzten Jahrzehnt ist eine weitere Zunahme zu verzeichnen. 
Wir betrachten, wie oben erwähnt, als soziale Hygiene alle die Ergebnisse und 
Aufgaben, welche sich für die Gemeinschaft des Volkes oder einzelner Gruppen 
aus der Erkennung und Behandlung einzelner Gesundheitsstörungen oder gehäuf- 
ter Fälle dieser ergeben. Von diesem Gesichtspunkte aus kommen vor allem die Schädi- 
gung durch unzweckmäßige Ernährung, Verfälschung von Nahrungs- und Genuß- 
mittel, einschließlich schlechten Wassers, die Gefahren für die Gesundheit, durch die 
Berufstätigkeit und weiterhin durch ansteckende Krankheiten in Betracht. Zu 
der Bekämpfung dieser Schädigungen kommen diejenigen, welche den Säuglingen 
und Kindern, der Schuljugend und den jugendlichen Arbeitern drohen. 
Bekämpfung übertragbarer 
Krankheiten. 
  
  
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