Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
XI. Buch. Malerei und Plastik. 509 
  
Aktdarstellung. Bei der Nacktkunst, der edelsten Aufgabe des Bildhauers, setzten 
die Gegner dieser barockimpressionistischen Bildhauerei am schärfsten 
ein. Es sind zunächst die Neoklassizisten. Sie wollen — wenigstens grundsätzlich —von der Ge- 
dankenkunst nichts wissen und einzig unmittelbar empfangenen Formvorstellungen folgen. 
Sie streben, obwohl sie sich nicht völlig von der Antike bzw. dem italienischen Quattrocento zu 
befreien vermögen, einer erhöhten Gattung Mensch in der Nacktkunst mit neuzeitlichem Ge- 
präge in der äußeren Erscheinung und einer im engeren Sinne des Wortes plastischen Vor- 
stellung erfolgreich zu. Sie bekennen als ihr Programm, daß sie sich nicht mit einem 
Modell begnügen, sondern künstlerische Eindrücke überall suchen, um sie in einem Werke 
verdichtet darzustellen. Von besonderem Einfluß wurde es, daß die Künstler wieder 
begannen, die Figur selbst aus dem festen Stoff herauszuholen, sie von dem Stein zu 
befreien, denn durch das Fortnehmen der Materie wird die innere Vorstellungs- und 
damit auch die Gestaltungskraft unablässig und energisch angeregt wie gestrafft. Der 
Block, der jetzt vom Bildner respektiert werden muß, zwingt zu einem Zusammenraffen 
der Körperformen. Dadurch entsteht nicht selten eine etwas gezwungene Haltung der 
Figuren, die aber, wie seinerzeit in der Renaissance, hoffentlich nur ein Ubergang zu 
dem Grundsat ist, möglichst viel Leben auf möglichst geringem Raum darzustellen. Man 
gelangt mit alledem, allgemein gesprochen, von der individuell-realistischen zu der stilistisch- 
tektonischen Auffassung. Diese fast architektonisch geregelte Melodik einer klaren Gesichts- 
vorstellung in den Werken der Ne#oklassizisten suchte auch Fühlung mit der Farben- 
freudigkeit der Zeit entweder durch eine realistische Bemalung oder durch eine farbige 
Tönung, endlich sogar durch die Verbindung verschiedenartiger Materialien zu einer 
farbigen Wirkung. Slruch in das gleitende, schimmernde Licht der umhüllenden Atmo- 
sphäre hofften die Bildner, durch feinste Meißelschläge, durch Polieren ihre Werke sich 
einschmiegen zu sehen. Diese Bemühungen um Farbe und Licht sind allerdings ziemlich 
vereinzelt geblieben. Bei der weiteren Entwicklung zur stilistisch-tektonischen Behandlung 
spielt in der Bildhauerei die angewandte Kunft eine ähnliche Rolle wie die Litho- 
graphie in der Malerei. Das Kunstgewerbe zwingt den Zweck des Gegenstandes voran- 
zustellen, damit tritt unwillkürlich ein architek- 
tonischer Formenwert hervor, gleichzeitig soll 
jener aber einem persfönlichen Bedürfnis entsprechen und einen angemessenen Schmuck 
erhalten. Wegen der allgemeinen Beziehung des kunstgewerblichen Erzeugnisses zum täg- 
lichen Leben bevorzugt man vielfach als Dekor die nackte oder nur ganz dünn beklkleidete 
menschliche Gestalt im Hinblick auf ihre volle, energisch gegliederte Form und die fließen- 
den, aber wiederum bestimmt akzentuierten Linien. Da nun alle Plastik von der ange- 
schauten Nacktkunst in erster Linie abhängig ist, so wurde diese Art der Verwendung der 
Kleinplastik im Alltage von erheblichem Werte für eine weitgreifende, verständnisvolle 
Anteilnahme an der Nacktkunst. 
Es dürfte ferner richtig sein, wenn man eine der Wurzeln dieser gemessenen, neo- 
Elassizistischen Kunst in einem, natürlich unbeabsichtigteen, Widerstreit gegen das unruhige 
Großstadtleben, das unsere Zeit kennzeichnet, findet. Weit höher ist für die Entfaltung 
dieser Art der Bildhauerei, ja der Plastik überhaupt, die in ganz Deutschland wachsende 
  
Angewandte Kunst und Sport. 
  
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