XI. Buch. Malerei und Plastik. 509
Aktdarstellung. Bei der Nacktkunst, der edelsten Aufgabe des Bildhauers, setzten
die Gegner dieser barockimpressionistischen Bildhauerei am schärfsten
ein. Es sind zunächst die Neoklassizisten. Sie wollen — wenigstens grundsätzlich —von der Ge-
dankenkunst nichts wissen und einzig unmittelbar empfangenen Formvorstellungen folgen.
Sie streben, obwohl sie sich nicht völlig von der Antike bzw. dem italienischen Quattrocento zu
befreien vermögen, einer erhöhten Gattung Mensch in der Nacktkunst mit neuzeitlichem Ge-
präge in der äußeren Erscheinung und einer im engeren Sinne des Wortes plastischen Vor-
stellung erfolgreich zu. Sie bekennen als ihr Programm, daß sie sich nicht mit einem
Modell begnügen, sondern künstlerische Eindrücke überall suchen, um sie in einem Werke
verdichtet darzustellen. Von besonderem Einfluß wurde es, daß die Künstler wieder
begannen, die Figur selbst aus dem festen Stoff herauszuholen, sie von dem Stein zu
befreien, denn durch das Fortnehmen der Materie wird die innere Vorstellungs- und
damit auch die Gestaltungskraft unablässig und energisch angeregt wie gestrafft. Der
Block, der jetzt vom Bildner respektiert werden muß, zwingt zu einem Zusammenraffen
der Körperformen. Dadurch entsteht nicht selten eine etwas gezwungene Haltung der
Figuren, die aber, wie seinerzeit in der Renaissance, hoffentlich nur ein Ubergang zu
dem Grundsat ist, möglichst viel Leben auf möglichst geringem Raum darzustellen. Man
gelangt mit alledem, allgemein gesprochen, von der individuell-realistischen zu der stilistisch-
tektonischen Auffassung. Diese fast architektonisch geregelte Melodik einer klaren Gesichts-
vorstellung in den Werken der Ne#oklassizisten suchte auch Fühlung mit der Farben-
freudigkeit der Zeit entweder durch eine realistische Bemalung oder durch eine farbige
Tönung, endlich sogar durch die Verbindung verschiedenartiger Materialien zu einer
farbigen Wirkung. Slruch in das gleitende, schimmernde Licht der umhüllenden Atmo-
sphäre hofften die Bildner, durch feinste Meißelschläge, durch Polieren ihre Werke sich
einschmiegen zu sehen. Diese Bemühungen um Farbe und Licht sind allerdings ziemlich
vereinzelt geblieben. Bei der weiteren Entwicklung zur stilistisch-tektonischen Behandlung
spielt in der Bildhauerei die angewandte Kunft eine ähnliche Rolle wie die Litho-
graphie in der Malerei. Das Kunstgewerbe zwingt den Zweck des Gegenstandes voran-
zustellen, damit tritt unwillkürlich ein architek-
tonischer Formenwert hervor, gleichzeitig soll
jener aber einem persfönlichen Bedürfnis entsprechen und einen angemessenen Schmuck
erhalten. Wegen der allgemeinen Beziehung des kunstgewerblichen Erzeugnisses zum täg-
lichen Leben bevorzugt man vielfach als Dekor die nackte oder nur ganz dünn beklkleidete
menschliche Gestalt im Hinblick auf ihre volle, energisch gegliederte Form und die fließen-
den, aber wiederum bestimmt akzentuierten Linien. Da nun alle Plastik von der ange-
schauten Nacktkunst in erster Linie abhängig ist, so wurde diese Art der Verwendung der
Kleinplastik im Alltage von erheblichem Werte für eine weitgreifende, verständnisvolle
Anteilnahme an der Nacktkunst.
Es dürfte ferner richtig sein, wenn man eine der Wurzeln dieser gemessenen, neo-
Elassizistischen Kunst in einem, natürlich unbeabsichtigteen, Widerstreit gegen das unruhige
Großstadtleben, das unsere Zeit kennzeichnet, findet. Weit höher ist für die Entfaltung
dieser Art der Bildhauerei, ja der Plastik überhaupt, die in ganz Deutschland wachsende
Angewandte Kunst und Sport.
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