08 Theater. Xl. Buch.
nicht vorüber sind, von einer hosterischen Liebesglut ergriffen, dem siegreichen Züngling
eine Liebeserklärung macht, daß sie nach den entsetzlichen Erfahrungen, die ihr mit ihrem
ersten Kinde zuteil geworden, und nachdem sie ihre spätere Unfruchtbarkeit wiederholt
gesegnet hat, plötzlich keinen brennenderen Wuncch kennt, als durch den Geliebten Mutter
zu werden, und daß das alternde Weib, obgleich sie bei dem ersten Anschauen des Odipus
bekannte Züge in ihm zu sehen meint, irgendwelche Bedenken nicht aufkommen läßt,
die ihr das Verbrechen, das zu begehen sie im Begriffe ist, schaudernd enthüllen würden.
Der antike Dichter, der solche furchtbaren Ereignisse erzählt, bedurfte keiner pspcholo-
gischen Erwägung, weil er eben nur die alte Sage treu wiedergab, der moderne, wenn
er einen solchen Stoff wählte, durfte sich nicht mit einem neumodischen Mäntelchen
begnügen, sondern mußte die Sage von Grund aus umgestalten. Einzelne Hauptszenen:
die Selbstvernichtung der Sphinz sind zwar wortreich, aber weder anschaulich noch
verständlich; Kreon ist ein Polterer und Schwätzer, der, wo er reden sollte, schweigt,
und wo er schweigen müßte, das große Wort führt. Warum er Odipus zu der Stätte
begleitet, wo die Sphinz hauft, bleibt völlig unverständlich, fast so unbegreiflich wie der
Umstand, daß er, da Odipus ihm den Dolch aufdrängt, um ihn zu ermorden, die letzte
Gelegenheit vorübergehen läßt, sich des unbequemen Nebenbuhlers zu entledigen. Das
ist nicht antike Größe und nicht moderne Entsagung, sondern ein wortreiches Gerede,
das weder in den Umständen noch in dem Charakter des Handelnden begründet ist.
Ist Jokaste das hosterische eib, so ist Elektra (in dem gleichnamigen Drama
Berlin 1904) das perverse. Auch dieses Drama ist unantik, ohne dadurch modern geworden
zu sein. Diese zur Megäre gewordene Tochter, die ihre Mutter, die Mörderin des Baters,
haßt, den Bruder sehnlich erwartet, als den natürlichen Ausführer der Nache und die,
da er nicht erscheint, ja, sogar totgesagt wird, selbst entschlossen ist, zum Morde zu schreiten,
würde sie nicht an der Ausführung ihres Planes schließlich durch das späte Erscheinen
des Orest gehindert, würde uns verständlich sein, wenn sie stumm hbinbrütend, bloß im
Momente der höchsten Gereiztheit den Mund öffnet. Aber dieses Schwadronieren mit
sich selbst, dieses ironische, von Witz durchzuckte Wortgeplänkel mit ihrer Mutter, die
Anklänge von Perversität in ihren schwülen Gesprächen mit der Schwester Chrpsothemis
und die dunkle Andeutung der eigenen Beflecktheit stören den erhabenen Eindruck, den
sie als menschliche Rachegöttin machen müßte. Wohl finden sich auch hier Stellen von
elementarer Kraft, Angstschreie von berückender Macht in den Verzweiflungsreden der
von Träumen verfolgten Klytämnestra, aber das Ganze gestaltet sich doch nicht zu einem
psychologisch begreiflichen Drama. Denn Angist ist der konventionelle Dutzendbösewicht,
dessen Einfluß auf die ältere Frau, die Mutter erwachsener Kinder, kaum zu begreifen
ist; gerade hier wäre es die Aufgabe des Dichters gewesen, die dämonische Kraft zu
zeigen, die von dem Verführer ausgeht. Die fündige Lust, das Mannstolle in der Seele
des Weibes, das, wenn es auch in der Erinnerung an das vollführte Verbrechen schaudert,
doch so tief in das erotische Lustgefühl verstrickt ist, daß ihr Schauder und ihre Neue nur
eine halbe bleibt, weil sie von dem Lärm des Liebeswahnsinns übertönt ist.
Fortbildung der antiken Sage, feines, psychologisches Erfassen bei manchen einzelnen
poetischen Schönheiten verrät Ernst Rosmers Tragödie „Nausikaa“ (Berlin 1900).
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