Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
110 Theater. XI. Buch. 
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Poesie. Manchmal das Grausame der Geschichte von Tristan und Isolde noch über- 
trumpfend, vielleicht auch mit dem jähen Abschied Tristans verstimmend, quälend durch 
das Entsetzliche, daß die Schönste der Schönen den Krüppeln zur Beute gegeben werden 
soll, bleibt es doch das Werk eines Dichters. Der Charakter des alten, von greisenhafter 
Wollust verzehrten Marke, des liebessiechen Pagen, der Höflinge und Getreuen Tristans 
und Isoldes selbst sind wundervoll gezeichnet: die Beschreibung von Isoldes Schönheit 
durch Tristan, das Liebesgeflüster des innig verbundenen und doch zur Trennung ver- 
dammten Paares sind Perlen, wert, im Geschmeide einer Dichterkrone zu glänzen. 
Während unter Hardts Händen die alten Sagen neues Leben gewinnen, erscheinen 
sie bei Eduard Stucken wie tote Schemen: es ist mpotenz, die mit Kraft prahlt. 
Sein „Lanzelot“, Drama in 5 Akten, Berlin 1909, eines der drei Gralstücke, ist ein wider- 
liches, in knabenhafter Prosa — die äußerlich als Vers erscheint — abgefaßtes Gerede. 
Lanzelot, ein Schwächling, der weder zur Tugend noch zum Laster Kraft genug besitzt, 
Artus, ein Trottel, der nach Gebühr zum Hahnrei wird, und Ginevar, eine Hexe, der man 
nicht gönnt, daß die schöne Elaine ihrer Brunst zum Opfer fällt. Die Berbindung dieser 
ganz gewöhnlichen Sinnenlust mit der Gralegeschichte ist ohne jede künstlerische Einheit. 
Dem Mittelalter gehört Wilhelm v. Scholz, der Zude von Konstanz, an. Zn 
vier Aufzügen mit einem Nachspiel, ein gutes Gemälde aus dem 15. Jahrhundert, in 
dem der tragische Ausgang eines getauften jüdischen Arztes Nasson und seiner Geliebten 
Bellet, sowie der Untergang der Juden in Konstanz dargestellt wird. Das Psychologische 
ist nicht recht getroffen: wieso dieser Jude, der zum Christentum übergegangen ist, aber 
innerlich doch Jude bleibt, seinen ehemaligen Glaubensgenossen Rettung bringt und 
sich dadurch Verderben bereitet, ist nicht tief genug begründet. 
Die übrigen Epochen der Geschichte werden nicht allzu häufig behandelt. 
Ein Beispiel bietet Heinrich Lilienfein in seinem Schauspiel 
„Der Stier von Olivera“, in der eine Episode aus dem fran- 
zösisch-spanischen Kriege spannend erzählt wird: der Liebeswahnsinn eines französischen 
Generals zu einer jungen Spanierin und die Bewunderung für Napoleon, die schließ- 
lich über die senile Erotik triumphiert, werden geschickt zu einem belebten Ganzen ver- 
bunden. 
Neuere Zeit. 
  
Napoleon. Von Persönlichkeiten der neueren Geschichte ist eigentlich nur die 
— Riesengestalt Napoleons oft vorgeführt worden (um nur einige zu 
nennen: R. Boß, Hans Biesedahl, Hans Müllen), ohne daß es irgendeinem gelang, 
dem gewaltigen, verwerflichen, für Deutschland so verhängnisvollen Großen dichterisch 
völlig gerecht zu werden. 
Gegenüber der Ungunst, welche den meisten geschichtlichen Epochen 
zuteil wurde, ist auf die Gunst hinzuweisen, welche die Renais- 
sancezeit erfuhr. Ich glaube zwar nicht, daß in späteren Epochen die Periode, die wir 
jetzt durchschreiten, an imnerer Bedeutung der Renaissancezeit gleichgestellt werden wird; 
Renaissance. 
  
1642
	        
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