Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
XII. Buch. Das öffentliche Leben. 13 
  
schreierische Aufdringlichkeit auch schon im Interesse der Ethik und der Isthetik die Offent- 
lichkeit in die Schranken ruft, in der Zeitung ihren Hauptsitz. Und auch hier stecken in 
dem Monopolisieren und Ausschließen, im offenen oder versteckten Gelegenheitgeben 
und Gelegenheitsuchen zu allerlei Unsittlichem mancherlei Schäden und Gefahren, 
die die Offentlichkeit angehen. Doch wird hier das Schlimmste immer schon durch 
das Interesse des Blattes selbst und durch die Kontrolle der Konkurrenten verhütet, 
und dadurch das Verantwortlichkeitsgefühl der Leiter des Annoncenteils wach gehalten. 
Das zweite, was die Zeitung durch ihre Mitteilungen reguliert, sind die Welt- 
markts- und Weltverkehrsverhältnisse; und hier steht sie bereits im Dienst des 
öffentlichen Lebens, das an der Preisbildung der Waren, am Stand der Papiere, 
am Kredit der Staaten und der großen industriellen Unternehmungen und Banken aufs 
intensivste mit interessiert ist. Seitdem Oeutschland ein großer Industriestaat und 
auf dem Weltmarkt der große Konkurrent für die anderen Staaten geworden ist, ist der 
Handelsteil einer Zeitung für den, der ihn zu lesen versteht, nicht bloß für sein eigenes 
Geschäft, sondern für unsere ganze Machtstellung in der Welt vom größten Interesse: 
neben Fürsten und Diplomaten haben heute auch Großindustrielle und Banken in Rü- 
stungsfragen ein gewichtiges Wort mitzusprechen und über Krieg oder Frieden mit zu 
entscheiden. 
Endlich die dritte Aufgabe — die Zeitung als Übermittlerin von Neuigkeiten 
aller Art und, damit zusammenhängend, als Leiterin der öffentlichen Meinung durch 
Festsetzung des Urteils über das Geschehene und das Geschehende und künftig zu Tuende. 
Gerade diese Seite, aus der das Zeitungswesen überhaupt erst herausgewachsen ist 
und seinen Namen bekommen hat, hat in den letzten Jahrzehnten die gewaltigste Aus- 
dehnung erfahren durch die Forderung und die Befriedigung der Forderung größtmög- 
licher Schnelligkeit bei Ubermittlung der Nachrichten mit Hilfe von Telegraph und Te- 
lephon und durch das Netz von Korrespondenten, das große Zeitungen über die ganze 
Welt hin ausgebreitet haben; bei wichtigen Vorkommnissen, bei Kriegen oder Unglücks- 
fällen, bei Festen und Kongressen müssen besondere Berichterstatter zur Stelle sein 
und — für die Beteiligten selbst erwünscht oder unerwünscht — ihrer Zeitung prompteste 
Nachrichten zukommen lassen. Diese staunenswerte Schnelligkeit und Allseitigkeit des 
Nachrichtendienstes und die damit parallel gehende Ungeduld des auf Nachrichten war- 
tenden Publikums ist es vor allem, was unser Leben gegenwärtig so hastig, so unruhig, 
so nervös macht; und doch, wer von uns wollte und könnte das heute noch entbehren? 
Für diese aus der ganzen Welt zusammenströmenden Nachrichten bildet nun die 
Redaktion jeder großen Zeitung sozusagen die Sammelstelle, die die Nachrichten auszu- 
lesen, zu sichten, auf ihre Wahrheit hin zu prüfen, also an ihnen Kritik zu üben hat. Dabei 
ist die erfte Frage: was ist wichtig? und wir staunen doch oft, welche Lappalien für wichtig 
genug befunden werden, um sie über die ganze Welt hin mit der Schnelligkeit des elek- 
trischen Funkens zu verbreiten. Dieses Interesse für alles Mögliche, neben Wichtigem 
auch für ganz Unwichtiges, wird durch die Zeitung aber nicht bloß befriedigt, sondern viel- 
fach erst geweckt. Ein Zunehmen der Neugier, die den Geist nicht sammelt, sondern 
zerstreut und verflacht, ein Verlangen nach Sensationellem, das gelegentlich auch noch 
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