Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
14 Das öffentliche Leben. XlIIl. Luch. 
  
durch Bilder in unserer kinematographentollen Zeit gesteigert wird, macht sich deutlich 
spürbar und fordert und findet immer mehr Nahrung und Stoff. Und auch dadurch kann 
bier geschadet werden, daß das berichtete Sensationelle zur Nachahmung reizt und suggestio 
wirkt, geradezu geistige Epidemien bervorruft: man denke an die zu gewissen Zeiten sich 
häufenden Schülerselbstmorde oder an die gewöhnlich rasch aufeinanderfolgenden gleichen 
oder ähnlichen Verbrechen besonderer Art. Auf der andern Seite ist das alles aber auch 
im öffentlichen Interesse notwendig und nützlich zur Unterstützung von Polizei und 
Gericht bei der Entdeckung von Verbrechen und der Fahndung auf Verbrecher oder 
beim Aufsuchen von Verlorenem und von Verlorenen, und notwendig auch zur 
Weckung eines „vpielseitigen Interesses“, das nach Herbart Grundlage und Zielpunkt 
aller Bildung ist. 
Endlich die Hauptsache — die politischen Nachrichten. Was wären, um 
damit zu beginnen, die öffentlichen Verhandlungen des Reichstags, ja jedes größeren 
Stadtparlaments ohne die Presse? Das gesprochene Wort verhallt im engen Naum 
eines noch so großen Saales, ein paar Leute hören den Redner oder hören ihn auch nicht, 
fassen manches von dem, was er sagt, falsch auf und vergessen das Meiste und das Beste, 
es ist gleich darauf, als wäre es nie gewesen. Erst die Presse gibt dem gesprochenen Wort 
Dauer, den weiten Hörerkreis und die nötige Resonanz und macht die paar, die in der 
Elite der Erwählten selbst wieder als Sprecher eine Elite bilden, nun erst zu Führern 
des Volkes. Man sehe nur zu, wie bei einem Streik der Zournalisten sich die Reichstags- 
redner verloren vorkommen und die politisch interessierten Menschen alle darben. Und 
auch abgesehen von solchem gelegentlichen, absichtlichen oder unabsichtlichen Versagen ist 
die Kunst des Totschweigens in der Presse kaum weniger ausgebildet als die des Mit- 
teilens, und sie ist für den Totgeschwiegenen meist die schlimmste Art des Boykotts; 
denn wenn der Betroffene dagegen protestiert, so hat er neben dem Schaden für den 
Spott nicht zu sorgen. So zeigt die Presse hier schon ihre Macht: ohne sie ist der einzelne 
für das öffentliche Leben so gut wie nicht vorhanden, ein Mann der Offentlichkeit wird 
man heute nur durch sie. 
Aber nicht nur referieren will die Presse über das, was im Parlament oder in Volks- 
versammlungen gesagt wird und was Politisches in der Welt, im Inland oder Aus- 
land vorgeht, sie urteilt auch darüber, lobt, tadelt, empfiehlt, bekämpft, spottet und klagt. 
Teilweise liegt, wie eben angedeutet, ein Urteil schon in der Auswahl dessen, was sie 
mitteilt. Denn wie jede Geschichtschreibung dadurch subjektio ist, daß sie nicht alles be- 
richtet und berichten kann, was geschehen ist, sondern nur das, was der Historiker für wich- 
tig und wesentlich hält, und wie sie dadurch aristokratisch ist, daß sie nur das Bedeutende 
und Große auf ihren Blättern verzeichnet und das ewig Gestrige als Spreu durch ihr großes 
Sieb durchfallen läßt und ausscheidet, so und noch viel mehr ist auch die Presse subjektio 
und — wenigstens der Idee nach — aristokratisch. Und zwar scheidet sie aus und ur- 
teilt sie von einem bestimmten politischen Standpunkt aus, der meist ein mehr oder weniger 
ausgesprochener Parteistandpunkt ist. Darum ist das UArteil, das die Presse abgibt, wie 
die Auswahl, die sie trifft, nichts Algemeingültiges, sondern ein Parteipolitisches. Diese 
Einseitigkeit wird einigermaßen dadurch korrigiert, daß jede Partei und vielfach sogar 
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