Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
XII. Luch. Das öffentliche Leben. 15 
jede Nuance und Richtung innerhalb einer Partei ihr besonderes Organ hat, und so alle 
Parteien und Richtungen zu Wort kommen, und daß deshalb das, was die Zeitungen 
der einen Richtung verschweigen oder übergehen, von den andern mitgeteilt und ge- 
flissentlich zugunsten der eigenen und zu ungunsten der fremden Partei hervorgehoben 
wird. Wer daher täglich mehrere Zeitungen von verschiedenen Parteirichtungen liest, 
der erst bekommt ein Bild des Ganzen; und wer sie mit politischem Verständnis liest, 
wird dann in den Urteilen der einzelnen Parteiblätter leicht erkennen, wieviel davon 
allgemeingültig, wieviel und was dagegen mit der Parteibrille gesehen und durch das 
Parteisieb festgehalten oder ausgeschieden worden ist. Aber freilich, wie viele lesen 
viele, lesen mehr als eine, ihre eine Zeitung und lesen Zeitungen verschiedener Richtungen? 
Und wie viele vermögen zwischen den Zeilen das Wahre und das Richtige herauszulesen? 
an der Kritik der Zeitungen ihrerseits Kritik zu üben? Daher der große, der fast allmäch- 
tige Einfluß, den die Zeitung auf die Urteilsbildung der meisten Menschen ausübt. Viele 
übernehmen ihr politisches Urteil und ihre politischen Anschauungen einfach fertig von 
der von ihnen gehaltenen und regelmäßig gelesenen Zeitung; und auch wer sich dagegen 
sträubt, steht doch mehr oder weniger unter ihrem Einfluß. Verstärkt wird dieser noch 
durch die in Deutschland übliche Anonpmität gerade auch der politischen Artikel und Leit- 
artikel: die Kölnische Zeitung sagt es, das ist für die Mehrzahl ihrer Leser fast so maß- 
gebend, wie für die Pythagoreer das abros pya ihres Meisters; wenn es ihnen als 
das Elaborat eines Herrn Müller oder Schulze entgegenträte, würden sie sich weniger 
davon beeinflussen lassen und sich nicht so ohne weiteres der Autorität des gedruckten 
Werkes unterordnen: die Kölnische oder die Frankfurter Zeitung ist eine Macht, Herr 
Klein oder Herr Frank wäre keine. Das ist die suggestive Wirkung der Presse, der sich 
keiner von uns entziehen kann. Auch wenn wir uns kritisch verhalten wollen und meinen, 
kritisch zu sein, so entdecken wir nach einiger Zeit, vielleicht zu unserem Schrecken, 
wie energisch sich die Assoziationen zwischen den Ereignissen und dem Zeitungeurteil 
bei uns festgesetzt haben und wie stark das letztere auf uns abgefärbt hat; wir wissen 
nicht mehr, daß die Urteile, die wir fällen, nicht die unfsrigen, sondern Urteile unserer 
Feitung sind. 
Verantwortlichkeit der Presse. Daher ist auch die Verantwortung und 
Verantwortlichkeit der Presse eine außer- 
ordentlich große. In der äußeren Politik macht sie weit mehr Krieg oder Frieden als 
die offizielle Diplomatie, indem sie die Volksleidenschaft entfesselt oder beschwichtigt, 
den Samen der Zwietracht zwischen den Völkern sät oder eine friedliche Stimmung ver- 
breitet; in ihr schwingen ja vor allem jene Imponderabilien mit, auf die im Verhältnis 
der Völker zueinander soviel ankommt. Deehalb ist es für die leitenden Kreise wichtig, 
nicht bloß aufmerksam zu hören auf das, was die Presse sagt, sondern auf diesem Instru- 
ment auch ihrerseits spielen zu können, um dadurch auf Inland und Ausland einzuwirken, 
für eine kräftige Aktion nach außen die nötige Resonanz und das Verständnis im eigenen 
Volk zu schaffen oder durch kalte Wasserstrahlen den Nachbarvölkern rechtzeitig den Ernst 
der Situation zu Gemüt zu führen. Der große Staatsmann muß heute auch ein großer 
  
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