Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
zo Das öffentliche Leben. XII Buch. 
  
Bewohner nicht bloß durch Kirchenbauten und Bekehrungen, sondern auch durch Grün- 
dung von Schulen und Anlegung von ärztlichen Stationen und durch Erziehung der Ein- 
geborenen zur Arbeit mächtig beitragen; in der kaiserlosen und kolonienlosen Zeit 
Deutschlands sind sie die einzigen Träger des kolonialen Gedankens im deutschen Volk 
gewesen und haben den Samen zu dem ausgestreut, was in dieser Beziehung heute bei 
uns geschieht und lebendig ist. 
Daß sich die religiöse Vereinsbildung mit der sozialen verbindet, zeigt vor allem der 
oben genannte Volksverein für das katholische Deutschland und zeigen die zahlreichen 
katholischen und evangelischen Zünglings-, Zungfrauen- und Gesellenvereine; und daß 
den sozialdemokratischen Gewerkschaften und den liberalen Hirsch-Dunckerschen Gewerk- 
vereinen eine christliche Gewerkschaftsbeewegung zur Seite geht, ist schon erwähnt worden; 
ebenso, daß in ihr konfessionelle und innerkonfessionelle Gegensätze eine Rolle spielen 
und Kämpfe hervorrufen, die innerhalb des Zentrums auch politische Bedeutung haben 
und denen durch den „Frieden von Metz“ schwerlich ein Ende gesetzt ist. 
So kann man das Vereinsleben gar nicht hoch genug einschätzen in seiner Wirkung 
auf unser ganzes Volkstum und in seiner Verschlingung mit dessen tiefsten und inner- 
lichsten Lebensinteressen, wenn man auch seine Auswüchse und Gefahren, seine komischen 
und seine philisterhaften Seiten darüber nicht übersehen mag. Auch in ihren Kämpfen 
und Gegensätzen zeigt sich in erster Linie Kraft und Leben nach dem Heraklitischen Wort 
vom Streit als dem Vater aller Dinge. Daß selbst der gefährlichste, der konfessiomelle 
Gegensatz für unser Volk auch sein Gutes gehabt und uns vor Stagnation und geistiger 
Uniformierung, vor religiöser Gedankenlosigkeit oder vor irreligiöser Frivolität glücklich 
bewahrt hat, darauf habe ich oben schon hingewiesen. 
Demallgemeinen Zugzur Vereinsbildunghabensich 
auch die Frauen angeschlossen, nicht bloß in der alten 
Weise zu charitativer Betätigung, sondern auf dem ganz modernen Boden der Emanzi- 
pationsbewegung der Frau. Was hat die Frau mit dem öffentlichen Leben zu schaffen? 
konnte man Jahrhundertelang fragen. Das Wort, daß die die beste sei, von der man 
am wenigsten rede, war allgemein als Wahrheit anerkannt. Die Frau gehörte wirklich 
nur ins Haus; und wenn eine Königin Elisabeth oder eine Kaiserin Maria Theresia 
auf dem Thron „ihren Mann stellte“, so waren das eben Ausnahmen, die auf der 
Höhe der Menschheit allein möglich waren. Aur in der Renaissance, namentlich der 
italienischen, beteiligte sich die Frau eine Zeitlang an der neuen Bildung und an den 
Bildungsbestrebungen der Männer. Im übrigen war sie Haustochter, Hausfrau und 
Mutter; bloß charitativ hatte sie sich, als dazu besonders geeignet, in Krankenhäusern 
oder in Armenvereinen zur Arbeit auch außerhalb der häuslichen Sphäre bereit 
finden lassen. Das gilt heute nicht mehr. Mann und Frau sind phpsiologisch und pfo- 
chologisch verschieden, sogar total, in allen ihren Lebensäußerungen verschieden. Aber 
wie groß diese Verschiedenheit ist und wieweit ihr Rechnung getragen wird, das ist 
Sache der historischen Entwicklung, dabei spielen wirtschaftliche Verhältnisse, spielt 
aber auch menschliche Willkür eine Rolle. Und nun war es dahin gekommen, daß in den 
Frauenbewegung. 
  
1680
	        
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