XII. Buch. Das öffentliche Leben. 4
dafür ein äußeres Zeichen, so denke man an den Versuch, im ZInteresse des Parsifal,
also um eines einzelnen Künstlers und eines einzelnen Kunstwerks willen, die Klinke der
Sesetzgebung in Bewegung zu setzen.
So versöhnen sich auf allen Gebieten des geistigen Lebens und versöhnen sich auch
in dem Begriff der Volksbildung Individualismus und Sozialismus immer wieder mit-
einander. Das Volk wird in seinem Denken, Fühlen und Wollen immer abhängig sein
und den Bildungsstoff stets aus zweiter Hand sich geben lassen müssen; daher brauch
es Vorbilder und Führer, Lehrer und Leiter auch hier. Die Volksbildung ist,
wie schon ihr Name sagt, demokratisch, da sie auch den Genialsten und Höchstgebildeten
in den Dienst des Volkes stellt; sie ist aber nicht weniger auch aristokratisch oder gar
monarchisch, da erst die Führer aus dem Haufen und der Masse ein Volk schaffen und es
sich geistig untertan machen und in ihre Gefolgschaft zwingen. Und doch ist letzten Endes
auch das wieder demokratisch: es ist auch für das Volk der Weg zur Höhe, wo die Freiheit
wohnt, ist Hilfe zur Selbsthilfe, ein Bilden zum Selbständigwerden und Sichselberbilden.
Auf freiem Grund mit freiem Volke stehen — das ist das Ziel aller Volksbildungsarbeit.
Kückblic und Ausblick. Diese Ausführungen haben nicht darstellen können, was
9 in dem bestimmten Zeitraum der letzten 25 Jahre sich
entwickelt, gestaltet und gewandelt hat; das öffentliche Leben ist ein Kontinuum, das
beständig, aber für unser Auge unsichtbar, für unsere Hand ungreifbar anders und
immer wieder anders wird. Sie konnten daher nur versuchen, an gewissen Er-
scheinungen der Gegenwart aufzuzeigen, wie es heute ist. Erst wenn wir weitere
Strecken rückwärts gehen, wird uns der Wandel deutlich. Vor 120 Jahren hat Wilhelm
von Humboldt in seinen „Zdeen“ versucht, „die Grenzen der Wirksamkeit des Staates
zu bestimmen“. Es war ein Protest gegen den viel regierenden und alles bevor-
mundenden Polizeistaat des aufgeklärten Deispotismus, der diese Grenzen so weit als
möglich gezogen und sich beschränkend und hemmend in alles und alles eingemischt
batte. Dagegen hat ihm Humboldt jede Kulturaufgabe abgesprochen und ihm ledig-
lich den Schutz nach innen und nach außen als Aufgabe zugewiesen; namentlich habe
er sich schlechterdings alles Bestrebens zu enthalten, „direkt oder indirekt auf die
Sitte und den Charakter der Nation anders zu wirken, als insofern dies als eine natür-
liche, von selbst entstehende Folge seiner übrigen schlechterdings notwendigen Maßregeln
unvermeidlich sei“. Das war das Staatsideal des Individualismus mit seiner Innerlich-
keit und seinem sich selbst genügenden In-und-durch-sich-selber-sein: alles war privat
und perfönlich und sollte es bleiben. Dieser Auffassung trat in den Tagen der Schlacht
von Zena Hegel in seiner Phänomenologie und noch ausdrücklicher 1820 in seiner Rechts-
philosophie entgegen und entwickelte ein sich an der Staatsomnipotenz des klassischen
Altertums orientierendes Staatsideal ganz anderer Art, worin der Staat sozusagen alles
war und als Träger des Nomos das ganze Leben des Volkes bie in sein Innerstes und In-
timstes, bis in seine Gesinnung hinein für sich in Anspruch nahm: hier war nichts privat,
alles öffentlich. Diese Hegelschen Gedanken haben im neunzehnten Jahrhundert mehr
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