152 Die Chemie. X. Buch.
küle auffaßte, Schwierigkeiten in der Formulierung. Alfred Werners Koordinations--
theorie leitet diese Verbindungen aus der Nebenvalenz polyvalenter Kernatome ab.
Im Arnschluß an diese Theorie sollen die neueren Anschauungen über die Beziehungen
zwischen Affinitäts- und Elektrizitätswirkung kurz behandelt werden. In der zweiten
Richtung handelt es sich um die Valenzverteilung innerhalb der Moleküle von Kohlen-
stoffverbindungen, Betrachtungen, die sich zweckmäßig an die Erörterung der Fortschritte
der organischen Chemie anschließen.
Werner nimmt also an, daß Verbindungen, die die Strukturchemie als gesättigt
betrachtet — Verbindungen erster Ordnung — noch über Affinität verfügen zur Bindung
anderer Moleküle erster Ordnung, wie dies Kekulé schon 1864 zur Deutung der Ent-
stehung der von ihm als „molekulare Verbindungen“ bezeichneten Substanzen ausge-
sprochen hatte. Die entstehenden Additionsprodukte nennt Werner Verbindungen
zweiter Ordnung. Er unterscheidet, um die Bildung der Verbindungen zweiter Ord-
nung verständlich zu machen, zwischen Haupt- und Nebenvalenzen. Die Hauptvalenzen
entsprechen unseren gewöhnlichen Valenzen, die Nebenvalenzen entsprechen den Rest-
valenzen, die die Bildung von Verbindungen zweiter Ordnung verursachen, sie sind für
jedes Element in einer bestimmten Anzahl vorhanden. Als Koordinationszahl bezeichnet
er die Zahl der Atome, Atomgruppen und Moleküle, mit denen sich das Kernatom im
Mazimum unter Sättigung der Haupt- und Nebenvalenzen verbinden kann —die Summe
der Haupt- und Nebenvalenzen — sie beträgt für die meisten Elemente 6. Den Raum,
den die mit dem Zentralatom verbundenen Atome einnehmen, nennt Werner die erste
Sphäre des Zentralatoms. Bei den Elementen mit der Koordinationszahl 6 kann man
sich die angelagerten Atome, Radikale oder Moleküle räumlich so angeordnet denken,
daß sie die Ecken eines Oktaeders bilden. Dadurch werden die auftretenden Isomerien
verständlich. Die in der ersten Sphäre gelegenen Atome, Radikale können andere Atome
binden, die sich dann in bezug auf das Zentralatom in einer zweiten Sphäre befinden.
Oas die erste Sphäre einnehmende komplexe Radikal, Jon, bekundet demnach eine Va-
lenz, die nach seiner Natur ihren Wert wechselt, und das in manchen Fällen für sich exi-
stenzfähig ist. Diese Vorstellungsweise eröffnete das Verständnis für den Bau der Kiesel-
fluorwasserstoffsäure, der Platinchlorwasserstoffsäure, der Ferro- und Ferricpanwasser-
stoffsäure, der Kobalt- und Platinammoniakverbinbungen und vieler anderer komplezer
Verbindungen. Sie beeinflußte auch die Auffassung der Ammoniumverbindungen, die
dann der Borfluorwasserstoffsäure entsprechen, indem Stickstoff und Bor je drei Haupt-
valenzen und eine Nebenvalenz, also die Koordinationszahl 4 besitzen.
Zu diesen rein chemischen Betrachtungen kommen die physikalisch-chemischen, die
die Beziehungen zwischen Affinitäts- und Elektrizitätswirkung zum Gegenstand haben;
sie gehören in das Gebiet der phpsikalischen Chemie. Hier sei nur auf einige Begriffs-
bestimmungen hingewiesen. Walter Aernst faßt die Jonen als Verbindungen der
Atome mit Elektronen auf. Abegg und Bodländer bezeichnen mit Elektroaffinität die
Affinität des Atoms zum Elektron. Die Valenz für Lonenladung nennt Abegg Elektro-
valenz und sucht alle Affinitätsäußerungen auf die Wirkung entgegengesetzter Elektro-
valenzen zurückzuführen. Er nimmt an, daß jedes Element sowohl eine positive wie eine
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