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und aber tausend Kehlen und gewiß auch aus den Herzen; den
dieses große Fest sollte ja das Pfand eines dauerheften Friedene
werden, der auch wirklich lange Jahre hindurch Deutschland beglückte
Nach allen diesen Zeremonien wurde in einem großen Saale gespeist
Vierundvierzig Grafen trugen die Speisen aus der Küche in den
Saal. An dem einen Ende des Saales, unmittelbar an den Fenstern.
saßen Kaiser und Könige in ihren Ornaten; Krone und Szepter
aber lagen auf goldenen Kissen rückwärts in einiger Entfernung
Die drei geistlichen Kurfürsten hatten in unmittelbarer Nähe des
Kaisers Platz genommen. Kur-Mainz saß den Mojestäten gegen-
über, Kur-Trier zur Rechten des Kaisers und Kur-Köln zur
Linken desselben. Dies erregte die Bemerkung, daß die Geistlichkei.
sich so lange als möglich mit dem Herrscher halten mag. Die
sämtlichen weltlichen Kurfürsten waren aber nicht erschienen, sondern
hatten nur ihre Gesandten geschickt; diese hatten sich schon entfernt
um in einem Seitenzimmer zu speisen. Dies läßt uns an das
Mißverhältnis denken, welches zwischen den weltlichen Kurfürsten
und dem Reichsoberhaupte durch Jahrhunderte allmählich ent-
standen war.
Ganz verschieden und viel einfacher war die Proklamierung des
Königs Wilhelm zum Deutschen Kaiser; dieselbe erfolgte am
18. Januar 1871 zu Versailles. Ganz Versailles war um 11 Uhr
in lebhafter Bewegung. Im Hofe des Schlosses war ein Spalier
von Truppen aufgestellt. In der Mitte des großen Spiegelsaale
war ein Altar errichtet, auf dem zwei Kerzen standen. An der
letzten schmalen Querwand der Galerie standen auf einer dort an-
gebrachten Estrade Fahnen= und Standartenträger in voller Aus-
rüstung. Alle Offiziere und die Hoch= und Höchstgestellten standen
um den Altar, einen breiten Weg für den König freilassend. Punkt
12 Uhr erschien der König, gefolgt von dem Kronprinzen, den
Prinzen Karl und Adalbert und sämtlichen anwesenden Fürsten des
Reiches. Mit ihrem Erscheinen begann die religiöse Feier mit einer
Liturgie, welcher die Predigt folgte. Als diese Feier geendigt hatte,
schritt der König mit den Prinzen und den deutschen Fürsten, die
Hofmarschälle voraus zur Estrade. Nahe bei dem Kronprinzen
stehend, las der König dann, den Helm in der Linken, das Papier
in der Rechten haltend, die Erklärung, daß er die ihm von Fürsten
und Volk angebotene deutsche Kaiserwürde annehme. Dann forderte
er den Bundeskanzler auf, seine an das deutsche Volk erlassene
Proklamation zu verlesen. Als er geendigt hatte, trat der Groß-
herzog von Baden plötzlich an die oberste Estradenstufe und rief mit
lauter Stimme: „Seine Majestät, König Wilhelm, der Kaiser von
Deutschland, lebe hoch!“ und die ganze glänzende Versammlung
stimmte jubelnd ein.
Aus des Königs Augen stürzten die Tränen, und er drückte dem
Großherzog die Hand. Der Bruder, die Vettern und Fürsten um
gaben den Kaiser, ihn beglückwünschend und händeschüttelnd.
So ist vom alten nur noch die Form gerettet, und während
früher die edle Gesinnung des Volkes und der Fürsten fehlte, war
diese bei der jetzigen Proklamation des Deutschen Kaisers in vollem
Maße vorhanden.