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Das Reich ist kein eigentlicher Einheitsstaat; denn die deutschen
Einzelstaaten bestehen als selbständige Staaten mit besonderen
Rechten, an denen nicht gerüttelt werden darf. Solche Rechte haben
BB die süddeutschen Staaten: Bayern, Württemberg und Baden
un Militär-, im Anstellungs- und im Verkehrswesen.
Die gemeinsamen Reichsangelegenheiten sind in den Artikeln
der Reichsverfassung festgestellt worden. Das Reichsgesetz geht stets
dem Landesgesetz vor. · ,,,«
Die Sorge um den Bestand des Reiches is die wichtigste all-
gemeine Angelegenheit. Das Reich wurde erst in einem Kampfe
gegen einen auswärtigen Feind geboren; das Reichsgebiet muß nun-
mehr auch durch das Heer, durch die Kriegsmarine und durch die
Festungen geschützt verden. . .. .
Der Kaiser vertritt das Reich dem Auslande gegenüber; er ist
der Oberbefehlshaber des Reichsheeres und der deutschen Marine.
Er erklärt im Namen des Reiches den Krieg und schließt Frieden;
auch kann er mit fremden Staaten Bündnisse und andere Verträge
eingehen. Der Kaiser ernennt die obersten Reichsbeamten und
überwacht die Ausführung der Reichsgesetze. Er beruft den Bundes-
rat und den Reichstag, kann letzteren auch vertagen und schließen.
Nur bei besonderen, in der Reichsverfassung vorgesehenen Fällen,
bedarf der Kaiser der Zustimmung des Bundesrates und der Ge-
nehmigung des Reichstages.
Der erste Beamte des Reiches ist der Reichskanzlere Er hat im
Namen des Kaisers die Reichsverwältung zu leiten und die Kaiser-
lichen Erlasse und Gesetze gegenzuzeichnen und dafür die volle
Verantwortung zu übernehmen.
An der Verwaltung des Reiches ist auch der Bundesrat beteiligt.
Er besteht aus den Vertretern der deutschen Bundesstaaten; ohne
ihn erhält kein vom Reichstag beschlossenes Gesetz Gesetzeskraft.
Der Reichstag, die nationale Vertretung des gesamten deutschen
Volkes, besteht aus Mitgliedern, Reichstagsabgeordneten; sie werden
durch allgemeine und direkte Wahlen in geheimer Abstimmung vom
Volke an 5 Jahre ewählt. "
Schon vor der Errichtung des Deutschen Reiches bestanden unter
den deutschen Bundesstaaten zahllose Einzelverträge, welche den
gemeinsamen Bedürfnissen der einzelnen Staaten gerecht werden
sollten. Das neue Reich hat diese Errungenschaften an dich gezogen
und durch Reichsgesetz einheitlich gestaltet, so das Zollwesen, das
Maß-, Münz= und Gewichts-, Bank, Post-, Telegraphen-, Patent-
wesen, den Schutz des geistigen Eigentums, das Privatrecht u. dergl.
Auch das gemeinsame Gesetz über das gesamte bürgerliche Recht,
siber Strafrecht und Handelsrecht ist von dem Reiche geordnet worden.
„Möge dem deutschen Reichskriege, den wir # ruhmreich geführt
haben, ein nicht minder orreicher Reichsfrieden folgen, und möge die
Aufgabe des deutschen Volkes fortan darin beschlossen sein, sich in
den Wettkämpfen um die Güter des Friedens als Sieger zu erweisen!“,
das waren Kaiser Wilhelms I. Segenswünsche, mit denen er am
21. März 1871 den ersten deutscher Reichstag eröffnete. Die Wünsche
Wilhelms des Großen haben sich bisher herrlich erfüllt. Deutschland
ist ein Hort des europäischen Friedens geworden.