Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts.

146 Erster Teil. Drittes Buch. -$ 54. 
bill and declaration of rights alle außerordentlichen Gewalten des 
Königs aufgehoben und die parlamentarischen Rechte von neuem 
bestätigt. Mit diesem Momente begann eine entgegengesetzte Ent- 
wicklung. Das Parlament suchte sich selbst zum entscheidenden 
Faktor im Staatsleben zu machen und erreichte sein Ziel zwar 
nicht durch eine förmliche Verfassungsänderung, wohl aber durch 
die Ausbildung einer politischen Praxis. Die Stuarts hatten an- 
gefangen, die Geschäfte statt in dem gesetzlich anerkannten Ge- 
heimen Rat (privy council) in einer kleinen Versammlung will- 
kürlich ausgewählter vertrauter Räte des Königs, dem sogenannten 
Kabinett, zu erledigen. Dieses entwickelte sich aus einem 
Organ des königlichen Willens zu einem* Ausschuß der Parlaments- 
häuser. Nach einer Praxis, welche sich seit der Thronbesteigung 
des Hauses Hannover (1714) ausbildete, in dem Ministerwechsel 
des Jahres 1782 entschieden zum Ausdruck kam und unter der 
Regierung der Königin Viktoria vollkommen zum Abschluß ge- 
langt ist, wird das Kabinett (Ministerium) von derjenigen Partei 
gebildet, welche die Majorität im Unterhause besitzt. An der 
Spitze desselben steht nicht der König, sondern der Premier- 
minister, der gleichzeitig Haupt der Regierung und Führer der 
Parlamentsmajorität ist. Man bezeichnet diese Regierungsform als 
arlamentarische Regierung oder parlamentarisches System. Das 
önigtum, welches infolge der gedachten Einrichtung in der Wahl 
seiner obersten Räte sehr beschränkt ist, hat jetzt im wesentlichen 
nur noch eine formale Bedeutung. Von dem königlichen Veto 
bei Gesetzesvorschlägen ist seit Anfang des achtzehnten Jahr- 
hunderts kein Gebrauch mehr gemacht worden. 
8 54. 
Die englische Verfassung wurde auf dem europäischen Kon- 
tinente durch die Darstellung Montesquieus! bekannt. 
Montesquieu findet das Wesen derselben in zwei Dingen: einer 
Mischung von Monarchie, Aristokratie und Demo- 
kratie und der sogenannten Teilung der Gewalten, Er 
unterscheidet gesetzgebende, exekutive und richterliche Gewalt und 
behauptet, in einem freien Staate müsse jede derselben einer andern 
Person oder Körperschaft übertragen sein. Die Gewaltenteilung 
ist aber nach ihm ın England so durchgeführt, daß sie die Mischung 
der Staatsformen ? einschließt. Die exekutive Gewalt steht dem 
* — von der Gesetzgebung übrigens niemals ausdrücklich anerkannten, 
aber auch nicht verbotenen, 
ı Esprit des lois. Livre XI chap. 6. Vgl. oben $ 8 Anm. e, ferner 
E. v. Meier, Französ. Einflüsse auf die Staats- und Rechtsentwicklung 
Preußens im 19. Jahrh. 1 61ff.; Rehm, Staatsl. 8$ 59, 73—75; Jellinek, 
Staatsl. 498f.: auch Hatschek, Engl. Staatsr. 1 19 ff. 
® Über den Gedanken der gemischten Staatsform: Gierke, Althusius 
186 2 and Genossenschaftsrecht 4 475fl.; Rehm, Staatsl. $ 47; Hatschek 
2.2. 0. 21—23.
	        
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