Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts.

Die Organe. 8 124. 487 
Schließung der Bundesratssession ist formell nur insoweit be- 
schränkt, als sie nicht während der Dauer der Reichstagssession 
erfolgen darf, materiell auch dadurch, daß, wenn ein Drittel 
der Stimmen mit derselben nicht einverstanden ist, es sich in der 
Lage befindet, eine sofortige neue Berufung zu verlangen. [Nach 
der Verfassung ist also der Bundesrat keine permanente, sondern 
eine periodisch zusammentretende Versammlung. Tatsächlich 
ist er aber, da der Kaiser von seinem Schließungsrecht seit 1883 a 
keinen Gebrauch mehr gemacht hat, längst zu einem permanent 
tätigen Kollegium geworden, dessen zeitweise eintretende Geschäfts- 
unterbrechungen den Charakter von Ferien habenb.] 
Der Vor sitz im Bundesrate und die Leitung der Geschäfte 
steht dem Reichskanzler zu, welchen der Kaiser ernennt°. Da 
der Vorsitz im Bundesrate ein Ausfluß der Preußen als Präsidial- 
macht zustehenden Befugnisse ist®, der Kaiser außerdem im 
die Zulässigkeit derselben lediglich auf diesen beschränken. Vgl. auch Seydel 
im Jahrb. a. a. O. 293 N. 2, 
s Die letzte formelle Einberufung des Bundesrats durch den Kaiser er- 
folgte durch V. vom 21. Aug. 1883, RGBl 285. 
b Nicht selten wird behauptet, daß dieser tatsächliche Zustand der Verf. 
widerspreche; dieser Widerspruch wird dann wieder geheilt durch die Be- 
hauptung einer „Verfassungswandlung“ (so Jellinek, Verfassungsänderung 
und Verfassungswandlung sel 27 ff.) oder eines verfassungändernden Ge- 
wohnheitsrechts (Perels in der Kieler Festgabe für Haenel [1907] 273 N. 4). 
In Wahrheit ist ein Widerspruch und daher auch das Bedürfnis einer be- 
sonderen Rechtfertigung eines solchen nicht vorhanden. Vorhanden wäre es 
nur dann, wenn der Bundesrat sich ohne kaiserliche Berufung versammelt. 
Das ist aber nicht der Fall. Alle Sitzungen des Bundesrats seit 1883 sind 
durch die seither durch keinen actus contrarius (Schließung) aufgehobene, 
daher noch heute in Kraft stehende und fortwirkende Berufungsverordnung 
vom 21. Aug. jenes Jahres (s.d. vor. Anm.) legitimiert. Der Vorschrift, daß der 
Bundesrat nicht ohne den Willen des Kaisers zusammentreten darf, ist also 
nicht zuwidergehandelt. Andererseits hat auch der Kaiser die Verfassun 
nicht verletzt, wenn er es jahrzehntelang unterließ, den Bundesrat periodise 
nach Hause zu schicken und wiederzuberufen, denn Art. 12 verbietet ihm 
wohl, gebietet ihm aber nicht, die Schließung unter bestimmten Voraus- 
setzungen auszusprechen; die RV kennt keine Höchstdauer für die Sessionen 
des Bundesrats. Es liegt mithin weder eine Verletzung noch eine Änderung 
des bestehenden VerfR vor, eine Anderung auch insofern nicht, als der 
Kaiser das Recht, den Bundesrat zu schließen, nicht durch Nichtgebrauch 
verloren hat. A. M. Jellinek a. a. OÖ. 23; gegen ihn Triepel, Unitarismus 
und Föderalismus 41, 42, 50. Richtig auch ,orn, StR 1160, Dambitsch, RV 
309, Herwegen, Bundesrat 48. 
° RV Art. 15. 
© Vgl. Laband, StR 1 278. Anderer Ansicht: Haenel, Oıganisatorische 
Entwicklung der RV 25 N.1 und P. Hensel, Die Stellung des Reichskanzlers 
nach dem StR des Deutschen Reiches, in AnnDR 1882 23 und 24, welche 
der Meinung sind, daß der Vorsitz dem Reichskanzler nicht als Vertreter 
Preußens, sondern als kaiserlichem Beamten zustehe. Diese Auffassung be- 
findet sich zwar mit dem Wortlaut des Art. 15 der RV im Einklang, der- 
selben steht aber die Entwicklungsgeschichte des Amtes des Reichskanzlers 
entgegen. Letzterer sollte nach dem Entwurfe der norddeutschen Bundes- 
verfassung lediglich preußischer Bevollmächtigter zum Bundesrat sein und 
etwa die Stellung eines Bundespräsidialgesandten haben. Durch die Amen-
	        
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