— 631 —
60 Jahren mit schmutziger Kleidung und mit einem Bündel Lumpen auf
seinem Rücken. Mit ihm bin ich an derselben Kette drei Tage und eine
Nacht hindurch gewesen. In diesem Aufzuge durchzogen wir viele Dörfer
unter Hohn und Spott der Bevölkerung.
Am ersten Abende bat ich, meine Kette für einen Augenblick lösen
zu wollen, um meinen Mantel anziehen zu können als Schutz gegen das
feuchte Lager. „Das ist nicht nötig,“ war die barsche Antwort, und man
ging mit dem Licht hinaus. Essen und Trinken wurde nicht gereicht;
ebensowenig am folgenden Morgen. Dank der Müdigkeit unserer Auf-
seher brauchten wir an diesem Tage nur wenig zu laufen, wir wurden
auf einem Wagen befördert. Abends kamen wir nach Maisons, wo ein
kleines Verhör im Quartier eines Generals stattfand. Dann ging es
zur nächsten Gendarmerie. Hier wurden mir alle Sachen genommen:
Uhr, Geld, selbst meine Hosenträger. Ich mußte ohne sie am folgenden
Tage einen Weg von mehr als 20 Kilometer zu Fuß zurücklegen. Ja,
sogar die Binde vom Roten Kreuz nahm man mir vom Arm weg, ob-
schon ich mich im Besitze meiner Papiere befand, die ich vorgelegt hatte.
Endlich, am Freitag, den 11. September, kamen wir nach Chateau-
Thierry. Gegen 5 Uhr wurde ich zum Kriegsgericht zur Vernehmung
geführt. Spät abends geht es zum Gefängnis zurück. Am folgenden
Morgen um 8 Uhr langte bei der Polizei ein Schreiben über mich an.
Es wurde mir verheimlicht. Es enthielt meine volle Freisprechung und
Freilassung. Ich bin jetzt im Besitze dieses Aktenstückes. Trotz dieses
Urteils wurde ich noch volle drei Tage als Gefangener am Bahnhof
Chateau-Thierry zurückgehalten.
So hatte ich Gelegenheit, das Folgende als Augen= und Ohrenzeuge
wahrzunehmen:
Am Bahnhof traf ich ungefähr 300 Gefangene. Es waren fast nur
Verwundete oder Kranke. Als die Franzosen in Chateau-Thierry ein-
rückten, gingen sie in die Spitäler und Lazarette, wo sich deutsche Ver-
wundete befanden; sie untersuchten deren Kleider und nahmen für sich,
was ihnen beliebte, insbesondere Geld und Uhren. Wir wurden in
einem offenen Güterschuppen untergebracht, der ungefähr einen Raum
von etwa 5 bis 7 Meter Breite und 10 bis 12 Meter Länge den etwa
300 Gefangenen bot. Die eine Seite des Schuppens war ganz offen; die
anderen Seiten hatten solche Oeffnungen, daß Wind und Wetter freien
Zutritt hatten. Es regnete und stürmte. Die Verwundeten lagen Tag
und Nacht auf dem Steinboden, der nur stellenweise mit einer dünnen,
ganz zerknickten Strohschicht bedeckt war. Die meisten Verwundeten hatten
keine Mäntel, einzelne auch keine Kopfbedeckung. Es befanden sich im
Schuppen zwei bessere Stellen, die mehr gegen die Witterung geschützt
waren und auch mehr Stroh enthielten. Die Verwundeten wurden am
Abend von denselben zurückgewiesen, die Aufseher nahmen dieselben für sich.
Unsere Nahrung am Bahnhof bestand in altem verschimmelten
Kommißbrot. Die Schimmelfäden zogen sich meist quer durch das ganze
Brot. Ebenso schlimm war es mit der Pflege der Wunden der Gefan-
genen bestellt. Viele hatten seit acht Tagen ihren Verband nicht mehr
erneuert erhalten. Mehrere baten darum am Sonntagmorgen, es sei
unbedingt nötig. Es wurde abgeschlagen. Erst am Sonnabend hieß es:
bloß die schwer Verwundeten, die den Verband notwendig erneuert haben
müssen, können sich melden. Sie wurden dann zu den deutschen Aerzten
40