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Denkschrift über die Stellung Englands und Frankreichs zu der Londoner
Seekriegs-Erklärung.
Die Kaiserlich Deutsche Regierung hat den neutralen Mächten nach-
stehende
Denkschrift
über die Stellung Englands und Frankreichs zu der Londoner Seekriegs-
rechts-Erklärung mitgeteilt:
Nach einer Order in Council vom 20. August 1914 will die Britische
Regierung während des gegenwärtigen Krieges die Londoner Seekriegs-
rechts-Erklärung vom 26. Februar 1909 mit einigen Zusätzen und Abände-
rungen beobachten. Diese Zusätze und Abänderungen sind aber derart, daß
sie die Londoner Erklärung in wesentlichen Punkten aufheben und dadurch
gleichzeitig in das geltende Völkerrecht eingreifen. Weitere sehr erhebliche
Abweichungen von der Londoner Erklärung sind in einer britischen Prokla-
mation vom 21. September 1914 enthalten.
J.
Die einschneidendste Abänderung der Londoner Erklärung findet sich in
den Bestimmungen über die relative Konterbande unter Nr. 3 und 5 der
Order in Council
Die Londoner Erklärung bestimmt in Artikel 33, daß der Begriff der
relativen Konterbande nur dann Anwendung findet, wenn die verfrachteten
Gegenstände für den Gebrauch der Verwaltungsstellen oder der Streitmacht
des feindlichen Staates bestimmt sind. Ferner soll nach Artikel 35 der
Begriff der relativen Konterbande ohne weiteres ausgeschlossen sein, wenn
sich das Schiff auf der Fahrt nach einem neutralen Hafen befindet.
Diese Bestimmungen, die im wesentlichen dem geltenden Völkerrecht
entsprechen und auf einer billigen Abwägung der Interessen der krieg-
führenden Staaten einerseits und der neutralen Staaten andererseits be-
ruhen, sind durch die Order in Council so gut wie aufgehoben worden.
Denn nach Nr. 3 der Order soll die Vermutung für die feindliche Bestim-
mung der Güter in jedem Falle Platz greifen, wo der Empfänger der Ware
unter der Kontrolle der Behörden des feindlichen Staates steht; das bedeutet
aber nichts anderes, als daß jede nach dem feindlichen Lande gerichtete Sen-
dung der Beschlagnahme ausgesetzt ist, da sich dort sämtliche Bewohner unter
der Kontrolle der Landesbehörden befinden. Diese Bestimmung erhält ihre
Ergänzung in Nr. 5 der Order, wonach auch das auf der Fahrt nach einem
neutralen Hafen befindliche Schiff wegen relativer Konterbande aufgebracht
werden kann; hier wird also entgegen dem Artikel 35 der Londoner Erklä-
rung der nur auf die absolute Konterbande anwendbare Begriff der fort-
gesetzten Reise auf die relative Konterbande ausgedehnt.
Auf diese Weise werden die milderen Regeln der Londoner Erklärung
für die relative Konterbande beseitigt und letztere im Ergebnis der absolu-
ten Konterbande völlig gleichgestellt. Damit wird der zur Versorgung der
Bevölkerung eines kriegführenden Staates bestimmte neutrale Handel mit
Gegenständen der relativen Konterbande, also insbesondere mit Lebens-
mitteln, der im geltenden Völkerrecht als legitim anerkannt ist, nahezu illu-
sorisch gemacht und so das Interesse des Kriegführenden wie der Neutralen
in völkerrechtswidriger Weise verletzt. Wie die Ereignisse auf dem See-
kriegsschauplatz beweisen, geht England nach dieser Richtung in der rück-