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Unabhängigkeit des Landes sei durch diese Versicherungen gewährleistet. Als
jedoch der Briefwechsel tatsächlich veröffentlicht wurde, erkannte man, daß
Deutschland diese Unabhängigkeit dennoch hatte wirksam verbürgen wollen.
Allein das ist noch nicht das Aergste. Das Weißbuch erwähnt einige uns
von Deutschland gemachte Anerbietungen, um unsere Neutralität zu erwir-
ken, darunter befindet sich jedoch keine einzige, die der Form nach anmehm-
bar gewesen wäre; Sir Edward Grey hat uns bei der Meinung gelassen,
daß ihm nur diese ungenügenden Vorschläge unterbreitet worden seien. Der
Ministerpräsident hat später anders gehandelt. Beide jedoch haben mit der
Wahrheit hinter dem Berge gehalten. Nach dem Weißbuch hat der deutsche
Botschafter mit Sir Edward Grey am 1. August eine Unterredung gehabt,
worüber der Minister des Auswärtigen folgendes mitteilt: „Der Botschaf-
ter drang nachdrücklich in mich, ich möchte die Bedingungen angeben, unter
denen wir neutral bleiben würden. Er schlug sogar vor, der Gebiets-
bestand Frankreichs und seiner Kolonien sollte gewährleistet werden.“
Sir Edward Grey wollte die Frage unserer Neutralität unter keinen
Umständen in Erwägung ziehen und hat dem Unterhaus nichts über die
Unterredung mitgeteilt. Warum nicht? Es war doch ein wichtiger Vor-
schlag, den tschland uns da machte. Hätte Sir Edward Grey uns das
mitgeteilt, dann hätte seine Rede unmöglich eine kriegslustige Stimmung
entfachen können. Eine Tatsache, die feststehend ist, daß Grey die Ehre der
Nation verpfändet hatte, ohne daß sie darum wußte, um für Frankreich und
Rußland ins Feld zu ziehen, so daß er nicht imstande war, die Neutralität
Englands in Erwägung zu ziehen. So standen die Dinge am 20. Juli.
Deutschland hat nach diesem Zeitpunkt auf keine einzige Handlung mehr
Einfluß ausgeübt.
In diesen Tatsachen liegt die Erklärung für den scheinbaren Wider-
spruch, daß der Mann, der behauptete, daß er die Erhaltung des europäischen
Friedens erstrebe, zugleich der Anführer der Kriegspartei war. Sir Edward
Grey hat versucht, sich den Folgen seiner Ententepolitik zu entziehen und den
Frieden zu retten. Als ihm das jedoch mißlang, sah er sich genötigt, sein
Land in den Krieg zu zerren. Die Versuche zur Rechtfertigung dieser Politik
ind eitel Ausflüchte. Betrachten wir z. B. den Fall Belgiens näher: Seit
Jahren war es bekannt, daß im Falle eines Krieges zwischen Frankreich
und Rußland auf der einen und Deutschland auf der andern Seite für
Deutschland die einzig mögliche Kriegstaktik darin bestehen könne, Frank-
reich geradenwegs anzugreifen und zu dem Ende durch belgisches Gebiet zu
ziehen und danach seine Kräfte mit den Russen zu messen. Diese Pläne
waren unserm Kriegsministerium bekannt. Sie wurden zur Zeit de
Agadirhandels öffentlich besprochen und in einzelnen Zeitungen öffentlich
behandelt. 1870 hatte Gladstone erklärt, daß in einem „allgemeinen Kriege“
die formale Neutralität verletzt werden könnte. Deutschlands militärische
Absichten waren uns durch die Erkundungen unseres geheimen Späher-
dienstes sehr wohl bekannt. Wir wußten, daß der Weg durch Velgien einer
der Hauptpunkte von Deutschlands Kriegsführung war.
Es ist allgemein bekannt, daß ein Volk nicht gern kämpft, wenn das Ziel
des Krieges eines idealistischen Anfluges entbehrt. Die „Daily Mail“
lieferte den Idealismus für den südafrikanischen Krieg, indem sie dem Volk
vorlog, es würden in Südafrika englische Frauen und Kinder mit der Nil-
pferdpeitsche traktiert. Für den gegenwärtigen Krieg sorgte die Regierung
für Idealismus, indem sie uns weismachte, daß wir die Unabhängigkeit
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