Full text: Die Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat. Erster Band: Einleitung. Die Titel. Vom Staatsgebiete und Von den Rechten der Preußen. (1)

110 Artikel 4. Gleichheit vor dem Gesetz und Gleichheit des Gesetzes. 
er denn ja auch, in Gestalt jenes § 22 Einl. z. A#n, schon in Zeiten 
gegolten hat, da — in Preußen und anderwärts — die Tage der auf 
dem Prinzip der Rechtsgleichheit beruhenden bürgerlichen Gesellschaft 
noch keineswegs gekommen waren. 
Vor dem Gesetze sind alle gleich, die ihm zu gehorchen haben, 
also und zufolge der territorialen Geltung der Gesetze nicht nur die 
„Quiriten“, die „Mitglieder des Staates“ (5 22 a. a. O.), „die Preußen“, 
— sondern auch die Fremden. Art. 4 Satz 1 gehört zu denjenigen 
Bestimmungen des Tit. II, die ungeachtet ihres Wortlautes ganz ent- 
schieden und unbedingt auch auf Ausländer Anwendung finden, was 
Arndt, Komm. S. 79 ohne ersichtlichen Grund bestreitet. 
3. So, wie er hier verstanden und erklärt wird, gehört der erste 
Satz des Artikels jedenfalls nicht zu den neuen Dingen, welche die 
konstitutionelle Staatsform mitbrachte. Wenn Thonissen, la constitution 
belge annotée zu Art. 6 Nr. 26 meint: „l’égalité des citoyens devant 
la loi forme, pour ainsi dire, le caractere distinctif du gouverne- 
ment représentatif“, so hat er sicher unrecht. Er verwechselt, wie 
dies auch in Preußen vorgekommen ist (s. oben S. 107), die Gleichheit 
vor dem Gesetz mit der Gleichheit des Gesetzes. Die erstere galt ja, 
wie jene von v. Daniels angezogenen Sätze beweisen, schon im alten 
Rom und unter dem Absolutismus des 18. Jahrhunderts. Satz 1 ist 
mit dem „gouvernement réprésentatif“, mit dem Konstitutionalismus 
in keiner Weise spezisisch verwandt oder verknüpft, er ist überhaupt 
nicht Ausfluß einer bestimmten Verfassungsform, sondern eine der 
Rechtsidee immanente Forderung, ein, und vielleicht der gewichtigste 
Zug ihres Wesens. Ubereinstimmend O. Mayer, Verwaltungsrecht 1 91 
und Anm. 17. Was die Verfassung an dieser Stelle vom „Gesetze“ sagt, ist 
wahr und richtig, weil und insoweit Gesetz dasselbe bedeutet wie Recht. 
Der Ausdruck Gesetz ist daher hier nicht im Sinne des spezifisch kon- 
stitutionellen, d. h. formellen, sondern in dem des materiellen Ge- 
setzbegriffes (s. hierüber bei Art. 62) auszulegen: Gesetz im Sinne des 
Art. 4 Satz 1 ist, ebenso wie die „lex“ in jenem römischen Satze und 
das „Gesetz“ nach § 22 Einl. z. A#n, jede Rechtsnorm. Vgl. Anschügz, 
Gegenw. Th. S. 33, 34, AlM Arndt an den dort zitierten Stellen und 
Selbst. VR S. 101ff. 
4. Standesvorrechte fünden nicht statt. — Erst der zweite, nicht schon 
der, wie gezeigt, oft mißverstandene erste Satz des Artikels bringt den Ge- 
danken der Gleichheit des Gesetzes, der Rechtsgleichheit, zur Geltung. 
Er kleidet das, was er meint und sagen will, in die Form einer Negative: 
Standesvorrechte, heißt es, finden nicht statt. Er beseitigt hiermit die Rechts-
	        
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