230 Artikel 12. Religionsfreiheit und Bürgerpflicht.
gestattet, dem Gott, an den er glaubt, mehr zu gehorchen als dem
Staatsgesetz.
Die Religionsfreiheit ist also durch die Bürgerpflicht beschränkt,
nicht umgekehrt. Darüber, was Bürgerpflicht und damit Schranke der
Religionsfreiheit ist, hat die Staats(Reichs= und Landes-gesetzgebung
in freiem Ermessen zu befinden; sie kann zur Bürgerpflicht erklären,
was sie will. Nur mit einer aus der Natur der Sache folgenden
Maßgabe: es dürfen unter Berufung auf Art. 12 Satz 3 keine Verpflich-
tungen auferlegt werden, welche die durch Satz 1 gewährleistete Religions-
freiheit nicht sowohl der Ausübung nach beschränken als vielmehr im
Prinzip aufheben. Andernfalls würde der Staat mit sich selbst, der
dritte Satz würde mit dem ersten bzw. dem Gesetz von 1869 in unauf-
löslichen Widerspruch treten. Ein solcher Widerspruch ist aber weder
anzunehmen noch vorhanden. Pflichten im Sinne des dritten Satzes
können immer nur solche sein, die das Verhalten der Menschen unter
sich und zum Staate betreffen und nicht zugleich ein Muß zur
Hegung oder Betätigung einer religiösen Überzeugung enthalten (vol.
hierzu und zum folgenden die durchaus zutreffenden Ausführungen von
Burckhardt, Komm. zur schweizerischen Bundesverfassung (19051|, 487 ff.).
Einen Glauben zu haben oder an Kultushandlungen teilzunehmen kann
niemals Gegenstand bürgerlicher oder staatsbürgerlicher Verpflichtung sein:
Forderungen, deren Erhebung der Staat durch Satz 1 sich selbst verboten
hat (vgl. oben S. 191, 197, 212ff.), kann er sich auf Grund von Satz 3 nicht
erlauben. Und ebensowenig wie mit Satz 1 darf die Normierung der Bürger-
pflichten mit Satz 2 bzw. dem ihn ersetzenden Gesetz von 1869 in Wider-
spruch treten, wie dies z. B. der Fall wäre, wenn das Ob und Wie jener
Pflichten konfessionsweise verschieden geordnet würde. Zu beachten
ist, daß die hiermit bezeichnete Bindung des preußischen Gesetzgebers
von diesem selbst, weil auf Reichsgesetz (G. von 1869) beruhend, nicht
eigenmächtig beseitigt werden kann. Vgl. auch oben S. 228 Nr. 7 a. E.
Insbesondere folgt aus der Reichsgesetzeskraft des Grundsatzes der
Parität, daß ein Nachlaß an bürgerlichen und staatsbürgerlichen Pflichten
zugunsten der Angehörigen einer bestimmten Konfession nur durch
Reichsgesetz vorgeschrieben oder zugelassen werden könnte. Dies gilt
nicht nur, selbstverständlich, von solchen Pflichten, die als solche reichs-
gesetzlich geregelt sind, z. B. von der Wehrpflicht (vgl. RE betr. die
Wehrpflicht der katholischen Geistlichen vom 8. Febr. 1890, Rl 23),
sondern auch von solchen, die auf Landesrecht beruhen. —
„Bürgerliche“ Pflichten im Sinne des dritten Satzes sind solche, die,
ihren Gegenbildern, den bürgerlichen Rechten entsprechend, Staats-