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lichster Weise in Gegensatz zum herrschenden Rechte zu bringen. Es ist
somit die Suprematie des Rechtes, die selbst den hier in Frage stehenden
Grundsätzen ihre verbindliche Kraft verleiht.
Zeigt das alles, wie sehr die englische Verfassung auf die beiden Prin-
cipien der Souveränetät des Parlaments und der Herrschaft des Rechtes
basirt ist, so ist zugleich klar, dass trotz aller Nachahmung die erstere nicht
in den kontinentalen Verfassungen anerkannt ist, während die letztere
wenigstens in Frankreich nicht so sehr verkannt, als vielmehr absichtlich
zurückgewiesen ist; denn nach französischer Anschauung soll die Executive
von einem Einflusse der Gerichte befreit sein, während die englische An-
schauung umgekehrt Erstreckung der richterlichen Cognition auf alle Acte
der Staatsverwaltung verlangt.
Im Vorstehenden dürfte der Inhalt des interessanten Werkes in seinen
Grundzügen wiedergegeben sein. Danach besteht das Verfassungsrecht im
eigentlichen Sinne des Wortes nur aus jenen Regeln, welche von den Ge-
richtshöfen erzwungen werden, alle andern die Verfassung berührenden Regeln
gehören lediglich dem Gebiete der Moral an.
Welche Regeln aber werden von den Gerichtshöfen erzwungen ? Gehören
dazu auch die Sätze des Gewohnheitsrechtes, welche von den Gerichten noch
nicht formell anerkannt sind, weil sie noch nicht Gegenstand eines Rechts-
streites geworden sind, andernfalls aber wohl anerkannt und erzwungen
worden wären? Obwohl nun Dicky auf S. 24 a. E. Gesetzes-, Gewohnheits-
und Juristenrecht neben einander stellt, so scheint es doch zweifellos, dass
für ihn die durch richterliche Entscheidung noch nicht anerkannten Sätze des Ge-
wohnheitsrechtes nicht als eigentliches Recht in Betracht kommen; denn nach
S. 31 sollen nur die von den Gerichten wirklich anerkannten Regeln Gegen-
stand des Verfassungsrechtes sein, d. h. wie wir auf S. 32 lesen, nur das
statute Jaw und das judge made law. Damit ist klar gestellt, dass der Ver-
fasser voll und ganz die Auffassung von Austin vertritt, wonach Recht nur
der vom Souverän (dem Parlament) oder seinen Delegirten (den Richtern) er-
klärte und durch Sanction gegen Uebertretung geschützte Wille ist. Wir wollen
hier nicht verweisen auf den schon von Anderen (siehe insbesondere BiERLING,
juristische Grundbegriffe Bd. I. S. 39—52 und 139—152) geführten Beweis,
dass die Thatsache des Machtbesitzes für sich allein nie hinreicht, die An-
erkennung und Befolgung einer Norm zu erklären, dass, obwohl jede Norm
die Möglichkeit einer Zwangsanwendung zulässt, doch keine schlechthin er-
zwingbar ist, dass unter den staatlichen Normen nicht blos vielfach Normen
existiren, denen eine Anwendung von Zwang fremd ist, sondern namentlich
auch solche, welche nur in beschränktem Maasse Zwang kennen, wie denn
bei vielen Vergehen im deutschen R.-St.-G.-B. nur die vollendete Handlung
mit Strafe bedroht sei, nicht aber der blosse Versuch. Sondern wir wollen
uns darauf beschränken, auf eine Consequenz der in Frage stehenden Auf-
fassung hinzuweisen, welche u. E. sich einem Studium der englischen Ver-
fassung geradezu hindernd entgegenstellen muss. Die grosse Masse jener
Bestimmungen, welche zusammen die Verfassung bilden, sind in ihrem Ur-
sprung Satzungen des Gewohnheitsrechtes. Hie und da ist ein Statut er-
lassen worden, um einen solchen Satz gegen Missverständnisse und Anfech-
tungen sicher zu stellen (z. B. Art. 39 der Magna charta, vgl. $. 219); häufig
auch ist derselbe in Folge einer Klage durch Richterspruch zum Ausdruck
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