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führen. Allein bei genauer Betrachtung wird sich ergeben, dass
unter der idealen Oberfläche eine Menge von doctrinären und
realistischen Momenten bestimmend und mitwirkend waren. Von
der französischen Karte vom Jahre 1814 an bis auf die neueste
Zeit pflegt man gerne von der Herrschaft des formalen Consti-
tutionalismus zu sprechen, und scheint diese Auffassung nament-
lich durch die staatsrechtliche Litteratur dieser Periode ihre Be-
rechtigung zu finden. Allein es wird nicht schwer sein, unter
der Decke doctrinärer Behandlung eine Fülle von idealistischen
und socialistischen Ideen spielen zu sehen.
Die neueste Zeit liebt es, wie von einem socialen König-
thum, so auch von einem Oonstitutionalismus zu sprechen, und die
socialistischen Beziehungen zu dem Hauptpunkte des constitutio-
nellen Rechtes, nämlich zum Wahlrecht, und der auch ın den
Regierungsvorschlägen allenthalben und im gesteigerten Mass her-
vortretende Socialismus, der sog. Staatssocialismus, scheint diese
Auffassung zu bestätigen. Allein dennoch ist dies alles, soferne
es sich um principielle Auffassungen des Constitutionalismus, nicht
um das stärkere Hervortreten der einen oder anderen Seite des-
selben handelt, irrthümlıch.
Dies geht schon daraus hervor, dass jedes Ideal, soll es in
das Reich der Erscheinungen treten und wirksam sein, der Formu-
lirung nicht entbehren darf und realistische Wirkungen haben muss;
dass ferner jedem Formalismus eine Idee zu Grunde liegen, dassihm
realistische Kräfte und Zwecke dienen müssen; dass auch der
plumpste Socialismus und die brutalste reale Kraft, wenn sie nach
Anerkennung unter den Menschen ringen, eines Ideals und einer
bestimmten Formulirung bedürfen. Und so war es immer und
allenthalben, wenn auch, abgesehen von dem ewigen mensch-
lichen Subject, die Ideale, die Formen und die wirthschaftlichen
Fragen unserer Zeit einen anderen Charakter haben als die früherer
Zeiten.
Da nach Vorstehendem die Auffassung des Constitutionalis-