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stischen Kriterium des Staates keine apodiktische, allgemeingültige Antwort
zu geben vermag. Ich muss aber gestehen, dass mir die Staatsdefinition,
zu der SEIDLER (S. 75) gelangt („Der Staat ist ein mit Personal-, Gebiets-
und Organhoheit ausgestattetes Hoheitssubjekt*), bei weitem klarer und ver-
ständlicher erscheint, als der Titel des Buches. Was ist ein „juristisches
Kriterium“? Ist es ein für die Rechtswissenschaft bedeutsames Kriterium ?
Dann ist das Epitheton „juristisch“ überflüssig. Denn jedes Kriterium des
Staates ist für die Rechtswissenschaft bedeutsam. Die Rechtswissenschaft
muss doch mit dem Staate rechnen, und, wie der Staat beschaffen, woran
er zu erkennen ist, ist für sie selbstverständlich wichtig. Oder ist ’ein
„Juristisches“ Staatskriterium jenes, welches mit den Mitteln, mittelst der
Methoden der Rechtswissenschaft aufzufinden ist? Das ist wohl kaum an-
zunehmen. Denn SEIDLERS Ausführungen sind nicht rechtsdogmatischer
oder rechtshistorischer, sondern, wenn man sie überhaupt charakterisieren
soll, allgemein philosophischer Natur. Es sind empirische Untersuchungen,
die sich mit Recht von jeder apriorischen Beeinflussung durch Lehrsätze der
Rechtswissenschaft oder durch positive Gesetze fernhalten. Eben darum ist
aber das „juristische Kriterium“ auch nicht ein aus dem Rechte zu erschlies-
sendes, in irgend einem positiven Rechte verborgenes Kriterium. Ich kann
mir das „juristische Kriterium“ eines Menschen denken, wenn etwa eine
Gesetzgebung den Menschen erst als vorhanden ansieht, sobald er die Wände
beschrien hat. Dann gibt es vielleicht Menschen im Sinne der Naturwissen-
schaft, die es noch nicht im Rechtssinne sind. Und ich kann mir in gleicher
Weise ein „juristisches Kriterium“ des Staates denken, wenn ich das Völker-
recht in Betracht ziehe, das mit Staaten operiert und sich daher darüber
klar werden muss, welche Gemeinwesen es als Staaten ansehen will. Es
kann dabei auf die Aufstellung besonderer juristischer Kriterien verzichten.
Es kann aber auch die Anerkennung eines Gemeinwesens als Staat von
gewissen formalen Momenten abhängig machen, die dann eben juristische
Kriterien des Staates sind. Der Verfasser lehnt jedoch (S. 11) die Ansicht
REHMs (mit Recht) ab, dass die völkerrechtliche Anerkennung eines Gemein-
wesens ein Merkmal des Staatsbegriffes ist. Damit gibt er aber das „juri-
stische Kriterium“ des Staates preis. Vom Völkerrecht abgesehen kann das
positive Recht den Staatsbegriff nicht entwickeln. Es muss ihn von der
Staatswissenschaft übernehmen. Es ist noch nicht so lange her, seit man
die Rechtswissenschaft und insbesondere die Staatsrechtswissenschaft auf
eigene Füsse zu stellen und von der Vermengung mit dem Naturrechte zu
befreien unternommen hat. Das ist aber nur halbe Arbeit. Die Rechts-
wissenschaft darf nicht selbst wiederum aus ihrem Gebiete heraustreten und
in die Staatswissenschaft eindringen wollen. Der Uebergang vom „allge-
meinen Staatsrecht“ zur „allgemeinen Staatslehre*, den die Theorie vor-
genommen hat, bedeutet in dieser Hinsicht einen grossen Fortschritt. Auch
SEIDLER macht sich diesen Fortschritt zunutze, indem er (gleich JELLINEK)