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Parlament, zwischen den beiden Kammern, zwischen der ge-
wählten Kammer und der Wählerschaft u. s. w. beherrschen —
Regeln, die in der englischen Rechtssprache als customs, under-
standings, conventions bezeichnet und von der law of the consti-
tution auf das sorgfältigste unterschieden werden ‘. Die wichtig-
sten unter ihnen sind jene, in welchen das Wesen der als
Parlamentarismus bezeichneten Regierungsweise zum Ausdruck
kommt, also die Regeln, wonach die Mitglieder des Kabinetts
Angehörige und Vertrauensmänner der Mehrheit der Zweiten
Kammer sein müssen und nur solange die Regierung führen
dürfen als sie das Vertrauen dieser Mehrheit geniessen, wonach
die Erste Kammer sich im Falle eines Dissenses dem Willen
der Zweiten zu beugen hat und die Krone den übereinstimmen-
den Beschlüssen beider Kammern, insbesondere bei Gesetzent-
würfen, die Zustimmung nicht versagen darf — wozu noch eine
Reihe anderer nach Zeit und Ort verschiedener Regeln — ich
erinnere daran, dass in England sogar die jährliche Einberufung
des Parlamentes nur auf einer solchen Regel beruht — hinzu-
kommen. Diese rechtlichen Erscheinungen werden von JELLINEK
als Spezialfälle des dispositiven Rechtes erklärt, unter dessen
verschiedenen deutschen Bezeichnungen er die als nachgiebiges
Recht bevorzugt, weil sie den eigentümlichen Charakter der
gerade hier in Frage kommenden Normen am besten zum Aus-
druck bringe.
Nun haben wir schon gesehen, dass das, was JELLINEK dis-
positives Staatsrecht nennt, diese Bezeichnung nur in einem un-
eigentlichen, vom Standpunkt der Systematik kaum zulässigen
Sinne führen kann. Aber es lässt sich auch unschwer zeigen,
dass jene Konventionalregeln weder in diesem noch in einem an-
deren Sinne dispositives Recht sein können. Halten wir uns an
?” Vgl. besonders Dıcky, Introduction to the study of the law of the
constitution, Chapt. XIV u. XV.
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