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Dr. Heinrich Rauchberg, Professor an der deutschen Universität in Prag:
DernationaleBesitzstandinBöhmen. Leipzig, Duncker-
Humblot, 1905. I. Bd. Text S. 1—701; II Bd. Tabellen; III. Bd. Gra-
phische Anlagen.
Der Kampf der Deutschen und Slaven um den vorherrschenden Ein-
fluss bildet die Kernfrage der österreichischen Politik seit der Zeit, da mit
dem Beginne des Verfassungslebens die erwachten Volkskräfte sich mäch-
tiger zu regen begannen. Das Zurückgreifen auf die hinter der absolutisti-
schen Epoche liegenden geschichtlichen Grundlagen der Monarchie führte
alsbald zur nationalen Sonderung, welche das Staatswesen um so stärker
erschüttern musste, als die Grenzen der nationalen Wohnsitze mit den der
administrativen Einteilung zugrunde liegenden Ländergrenzen vielfach nicht
übereinstimmen. Die ursprünglich so günstige Position des einheitlichen
deutschen Volksstammes gegenüber den slavischen Einzelstämmen ging in-
zwischen durch Uneinigkeit unter den Deutschen allmählich verloren und
es ist kennzeichnend, dass im gegenwärtigen Kampfe um das allgemeine
Wablrecht die annähernd gleiche Stärke des deutschen und des „slavischen“
Blocks den deutschen Parteien als eine Gefährdung der politischen Stellung
des deutschen Volksstammes in Oesterreich erscheint.
Der Schwerpunkt des Kampfes lag seit jeher inBöhmen, woselbst
der kulturell und wirtschaftlich fortgeschrittenste slavische Volksstamm,
die Czechen mit 3930 093 Bewohnern einem zwar numerisch wesentlich
geringeren (2 337 013) aber durch den industriellen Aufschwung und durch
den Zusammenhang mit den Deutschen des Reiches gekräftigten 'Teile des
deutschen Volksstammes gegenübersteht. Die Eigentümlichkeit der
nationalen Kampfesweise innerhalb eines national gemischten Staates besteht
darin, dass die einzelnen Volksstämme nicht immer ein von vorneherein be-
stimmtes, greifbares Ziel verfolgen, sondern durch Kräftigung des nationalen
Bestandes die allmähliche Dienstbarmachung der Machtmittel des Staates
für ihre Interessen im Auge haben. Die nationale Bewegung ist daher
vorzüglich Kulturbewegung. Sie führt zu Eingriffen in den Rechts-
und Interessenkreis der anderen Volksstämme; deshalb muss die Regierung
zu derselben Stellung nehmen. Das tut sie nach dem Bedürfnisse des Staates
und der Bedeutung der Volksmassen. Damit wird das Zahlenver-
hältnis zu einem wichtigen Elemente der politischen Rechnung; die
Zahlen gelten als Forderungstitel und zugleich als Massstab des Erfolges
im nationalen Kampfe. Die mächtige Hebung des czechischen Volksstanmes
auf kulturellem und politischem Gebiete, das Vordringen desselben in die
industriereichen Gebiete von Deutschböhmen hat seit langem zu über-
triebenen Vorstellungen über die Machtstellung der Czechen, ja zur Sorge
um die Existenz des Deutschtums in Böhmen geführt. Die Antwort auf
deutscher Seite war eine radikal-nationale Gegenströmung auf politischem