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11.
Wenn man nach den treibenden Ideen und den tatsäch-
lichen Motiven fragt, welche unmittelbar zur Durchführung
der gegenwärtigen Wahlreform führten, so wird man in der par-
lamentarischen Diskussion der Vorlage nicht allzu-
viel positive Anhaltspunkte finden. Die Debatten, namentlich
in Wahlreformausschusse, erschöpften sich zumeist im Kampfe
der Vertreter der einzelnen nationalen Gruppen um die Ver-
mehrung der Mandate der Volksstämme, ja selbst um die Siche-
rung der Mandate einzelner Abgeordneten. Die grossen Gesichts-
punkte, welche gleichzeitig die Beweggründe für eine so wesent-
liche Neuerung deutlich hervortreten lassen würden, wurden da-
bei vielfach verdunkelt und es war, von wenigen Ausnahmen
abgesehen °, vorzüglich den Gegnern der Wahlreform vorbe-
halten die Diskussion auf einem höheren Niveau allgemeiner
politischer Erörterung zu halten. Dadurch erhielt die ganze
Reformaktion scheinbar den Charakter einer unvermittelten, ausser-
halb der organischen Entwicklung des Verfassungslebens in Oester-
reich liegenden Neuerung. Denn es waren weder grosse innere
politische Umwälzungen vorangegangen, welche wie in Frank-
reich die Macht der demokratischen Gleichheitsidee mit unwider-
stehlicher Gewalt zum Durchbruche gebracht hätten, noch handelte
es sich, wie in Deutschland, nach Bismarcks bekanntem Worte,
um einen „Kampf auf Tod und Leben, bei dem man die Waffen,
zu welchen man greift und die Werte, die man durch ihre Be-
nützung zerstört, angesichts des erhofften Eıfolges des Kampfes
nicht ansieht“.
Das hauptsächliche Motiv lag im gänzlichen Versagen
des österreichischen Parlamentarismus wäh-
rend der letzten Jahre. Wenn auch der Grund hiefür vielleicht
° Vgl. z. B. die interessanten Ausführungen des Abg. KRAMAR in der
Sitzung vom 5. Okt. 1905, (Sten. Prot., Abg.H. XVII. Sess. S. 32107 ff.).
Archiv für öffentliches Recht. XXII. 1u. 2. 5