Full text: Archiv für öffentliches Recht. Band 22 (22)

— 6 — 
tiefer, vor allem in dem Ueberwiegen der nationalen Son- 
derinteressen über das gemeinsame Staatsinteresse gelegen sein 
mochte, so muss gewiss ein wesentlicher Anteil an dem Uebel 
auch in der Inkongruenz zwischen den wirklichen Interessen 
der Bevölkerung und den durch die parlamentarische Wahlord- 
nung vertretenen gesucht werden. Es musste dadurch der 
organische Zusammenhang zwischen den grossen Schichten der 
Bevölkerung und der parlamentarischen Vertretung unterbrochen 
werden. Der Staat erschien, wie seitens der Regierung mit Recht 
betont wurde, der grossen Masse als ein Abstraktum, dem mög- 
lichst wenig zu geben und möglichst viel abzuringen ein beson- 
deres Verdienst sei. Die Folge musste ein ungesunder Radi- 
kalismus der Meinungen und das alles überwiegende Vor- 
drängen der nationalen Frage bilden. Dazu kam die Prinzi- 
pienlosigkeit der letzten Reform vom Jahre 1896, welche 
die entgegengesetzten Grundsätze der Interessenvertretung und 
des allgemeinen Weahlrechtes zu vereinigen versuchte und so 
das letztere Prinzip in der Masse Wurzeln fassen liess, ohne 
dasselbe gänzlich durchzuführen. Das Ergebnis dieser Ver- 
hältnisse musste aber, entsprechend der Geistesströmung in den 
repräsentativen Staaten Europas, das Streben nach Umgestaltung 
des Wahlrechtes auf breitester Grundlage bilden 1°, 
Wenn aber auch manche unmittelbare Motive, welche zu der 
so raschen Lösung der Wahlreformfrage führten und selbst das 
mächtige Eingreifen von höchster Stelle zu gunsten der Reform- 
aktion veranlassten, nicht ganz klar zutage liegen, so ist gerade 
die Tatsache, dass das schwierige Werk ohne grosse Erschütte- 
rungen in verhältnismässig kurzer Zeit zustande gebracht worden 
  
  
’ Vgl. die Ausführungen des Min.Präs. Fh. von BEcK am 8. Nov. 1906 
(Sten. Prot. Abg.H. XVII. S. 39618), dann insbes. R. SPRINGER, Staat und 
Parlament, Wien 1901, derselbe: Grundlagen und Entwicklungsziele der 
österr.-ung. Monarchie 1906, ferner F. von WIESER, Unsere gesellschaftliche 
und politische Entwicklung seit 1848 in der N. Fr. Presse vom 8. Febr. 
1907.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.