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tiefer, vor allem in dem Ueberwiegen der nationalen Son-
derinteressen über das gemeinsame Staatsinteresse gelegen sein
mochte, so muss gewiss ein wesentlicher Anteil an dem Uebel
auch in der Inkongruenz zwischen den wirklichen Interessen
der Bevölkerung und den durch die parlamentarische Wahlord-
nung vertretenen gesucht werden. Es musste dadurch der
organische Zusammenhang zwischen den grossen Schichten der
Bevölkerung und der parlamentarischen Vertretung unterbrochen
werden. Der Staat erschien, wie seitens der Regierung mit Recht
betont wurde, der grossen Masse als ein Abstraktum, dem mög-
lichst wenig zu geben und möglichst viel abzuringen ein beson-
deres Verdienst sei. Die Folge musste ein ungesunder Radi-
kalismus der Meinungen und das alles überwiegende Vor-
drängen der nationalen Frage bilden. Dazu kam die Prinzi-
pienlosigkeit der letzten Reform vom Jahre 1896, welche
die entgegengesetzten Grundsätze der Interessenvertretung und
des allgemeinen Weahlrechtes zu vereinigen versuchte und so
das letztere Prinzip in der Masse Wurzeln fassen liess, ohne
dasselbe gänzlich durchzuführen. Das Ergebnis dieser Ver-
hältnisse musste aber, entsprechend der Geistesströmung in den
repräsentativen Staaten Europas, das Streben nach Umgestaltung
des Wahlrechtes auf breitester Grundlage bilden 1°,
Wenn aber auch manche unmittelbare Motive, welche zu der
so raschen Lösung der Wahlreformfrage führten und selbst das
mächtige Eingreifen von höchster Stelle zu gunsten der Reform-
aktion veranlassten, nicht ganz klar zutage liegen, so ist gerade
die Tatsache, dass das schwierige Werk ohne grosse Erschütte-
rungen in verhältnismässig kurzer Zeit zustande gebracht worden
’ Vgl. die Ausführungen des Min.Präs. Fh. von BEcK am 8. Nov. 1906
(Sten. Prot. Abg.H. XVII. S. 39618), dann insbes. R. SPRINGER, Staat und
Parlament, Wien 1901, derselbe: Grundlagen und Entwicklungsziele der
österr.-ung. Monarchie 1906, ferner F. von WIESER, Unsere gesellschaftliche
und politische Entwicklung seit 1848 in der N. Fr. Presse vom 8. Febr.
1907.