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lieferungsverträgen anderen Ländern einräumt, dann muss die
Benachteiligung des einen den Eindruck machen, als sei man
bei ıhm unter der normalen Mittellinie zurückgeblieben!!*. Von
diesem einseitig betrachtenden Standpunkt aus, der gerade im
prozessualen Auslieferungsrecht nahe liegt, nimmt sie sich wie
eine Retorsion aus, obschon sie keine ist. Denn für eine Retor-
sion käme nur das Verhältnis zweier Staaten zu einander, nicht
aber das eines Staates zu mehreren anderen in Frage. Es kann
jedoch innerhalb wie ausserhalb eines einzelnen Auslieferungs-
vertrages die gegenseitige Abstimmung in ihrer negativsten Form
den Charakter wirklicher Retorsion annehmen. Der Begriff der
Retorsion geht zwar im allgemeinen sehr weit und bedeutet Wi-
dervergeltung schlechthin, mag sie durch eine der unliebsam
empfundenen gleichgeartete Massregel oder eine gänzlich andere
geschehen !!®, Vielfach aber ist auch die Retorsion nichts weiter
als negative Reziprozität!!®, Sie stellt dann den gestörten Gleich-
1% Dem Eindruck vermag die bekannte Meistbegünstigungsklausel, wenn
sie hinreichend allgemein gefasst ist, wirksam abzuhelfen. Im deutschen
Auslieferungsrecht findet sie sich vor allem in dem Vertrage mit den Nie-
derlanden von 1896 in Art. 17; ferner in dem Konsularvertrag mit
Serbien vom 6. Januar 1883 (Reichsgesetzblatt 1883 S. 62) in Art. XXV;
wie es scheint auch in den Abmachungen mit Ungarn (siehe oben
Anm. 95), obwohl in den „Ersuchungsschreiben® S. 64 nichts davon er-
wähnt wird; in dem Protokoll Art. 2 zu dem Konsularvertrag zwischen dem
Deutschen Reich und Japan vom 4. April 1896 (Reichsgesetzblatt 1896
S. 732); in dem Freundschafts-, Handels- und Schiffahrtsvertrag mit dem
Freistaate Columbien vom 23. Juli 1892 (Reichsgesetzblatt 1894 S. 471)
in Art. 23. Doch muss man prinzipiell die Einstellung der Meistbegünsti-
gungsklausel in einen Auslieferungsvertrag für einen Missgriff halten. Die
feine Abstimmung, die zwischen den Strafrechten der Beteiligten vorge-
nommen werden muss, lässt sich nicht durch einen Hinweis auf eine zwi-
schen anderen zustande gekommene Vereinbarung ersetzen. Es muss daraus
1 Notwendigkeit eine Fülle von Unklarheiten und Streitpunkten ent-
stehen.
"5 v. LiszT, Völkerrecht S. 310.
" So gebraucht z. B. HALLECK reciprocity gleichbedeutend mit Re-
lorsion Bd. 2 S. 89.
Archiv für öffentliches Recht. XXY. ı. 7