— 109 —
aber nicht. Wenn als festgestellt erachtet werden darf, dass es
die ideelle Reziprozität internationalrechtlich nicht gibt, dass es
sich nur um eine empirische handeln kann, so muss auf diesem
einschränkenden Wege noch ein Schritt weiter geschehen. Auch
innerhalb der empirischen, der positivrechtlich niedergeschlagenen
Mutualität muss die Scheidung in absolute und relative, nach-
dem sie vorgenommen wurde, wieder dergestalt aufgelöst wer-
den, dass nur eine Art übrig bleibt. Die absolute Invizinität ist
für die Fälle angenommen worden, in denen die Gegenüberstel-
lungen einander in der Form entsprachen, und wo damit ihre
sachliche Uebereinstimmung als hinreichend gegeben vorausge-
setzt wurde. Dieser Rückschluss aus der Form auf den Inhalt
ist aber in Wirklichkeit nicht angängig, zumal wenn man an
das materielle Auslieferungsrecht denkt. Hier wäre eine wirk-
liche Uebereinstimmung nur möglich, wenn die beteiligten
Strafrechte identische Normen enthielten. Und diese Identität
müsste nicht allein hinsichtlich des Legaltatbestandes, sondern
auch in der wissenschaftlichen Beurteilung und in der praktischen
Auslegung bestehen. Jede Abweichung in der gesetzlichen De-
finition und nicht minder jede divergierende Auslegung erweist
den Rückschluss von der Form auf den Inhalt als trüglich. Schon
innerhalb eines einzelnen nationalen Rechts weicht die Auffas-
sung der Gerichte über die Tragweite derselben strafrechtlichen
Normen mannigfach von einander ab; um so schärfer sind die
Verschiedenheiten zwischen mehreren Nationen betont !?3, Es wäre
müssig, dabei zu verweilen. Daraus ergibt sich, dass bei der ab-
soluten Reziprozität, die sich auf die formal gleiche Redaktion
beruft, das Innere, der Inhalt, nicht die Uebereinstimmung auf-
weisen wird, die ein flüchtiger Blick vermuten möchte. Wäre
wirklich Form und Inhalt voll und ganz reziprok, dann handelte
133 y, MARTENS, Völkerrecht Bd. 2 S. 415: „Uebrigens sind bei der
Verschiedenartigkeit der Terminologie in den Strafgesetzen der verschie-
denen Staaten ..... Differenzen schlechthin unvermeidlich.“