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bei jeder Deliktskategorie in dem Verzeichnis der Verträge einen
gewissen Rahmen, innerhalb dessen alle Differenzen in den Re-
pressivmitteln und in dem Repressivmass unwesentlich sind, aus-
serhalb dessen sie aber nicht mehr gewahrt erscheinen kann. In
diesem Sinne erweist sich die Reziprozität trotz ihrer Unbe-
stimmtheit als der fundamentale Interpretationsgrundsatz für die
Auslieferungsverträge. Wie solche Auslegungsgedanken stets
— sie finden sich als imaginäre Werte in allen Rechtsgebieten —
wird auch er nicht in jedem Falle unbestreitbare Ergebnisse er-
zielen, aber er darf mit Fug von sich behaupten, dass er, von Haus
aus in den Konventionen lebendig, aus ihnen selbst hervorge-
gangen und abgeleitet ist. Werden durch die Ermittlungen der
Auslegung die Interessen der Kontrahenten, derentwegen Rechts-
hilfe eintreten soll, als nahe an dem Gleichgewichtspunkt lie-
gend erkannt, so bietet die nachgewiesene Invizinität ein Beweis-
mittel, dass die Interpretation zulässig ist. Andere Auslegungs-
verfahren werden ihre Unterstützung gewähren, und liegt das
Ergebnis in ihrem gemeinsamen Schnittpunkt, so wird seine
Richtigkeit gewiss. Ein Resultat aber, das der Reziprozität in
der festgestellten Bedeutung nicht entspräche, wäre niemals zu-
treffend.
3. Abschnitt. Die Anwendung der Reziprozität.
42. Was dem Unterhändler vorschwebte, was den Vertrag
beherrscht, das wird zum leitenden Gedanken der Auslegung.
Ehe aber an Beispielen aus dem materiellen Auslieferungs-
recht zu zeigen versucht werden soll, wie dieser Gedanke der
Reziprozität in der praktischn Anwendung wirkt, ist noch
das ein und andere vorauszuschicken.
Insbesondere ist es für das deutsche Auslieferungsrecht
wichtig, dass das Recht zur Auslieferung nicht da endet, wo
die Auslieferungsp flicht aufhört. Darin steht die deutsche
Anschauung in bemerkenswertem Gegensatz zu den Ländern, in