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Ungleichheiten und damit Missstimmung und Gefährdungen un-
vermeidlich wären. Ist das aber richtig, dann ist dieser Vorzug
des Gegenseitigkeitssystems gewichtig genug, manchen, ihm etwa
anhaftenden Nachteil aufzuwiegen.
49. Eine andere Frage ist es, ob die Auslieferungsgesetze
zweckmässig die Reziprozitätsbedingung ausdrücklich aufnehmen
sollen oder nicht. Bedeutet ihre Einfügung die rechtliche Bin-
dung an ihren Gedanken, lässt die Nichteinfügung freie Hand
und gestattet eine grössere Anpassung an die einzelnen Umstände.
Dass man sich in beiden Fällen tatsächlich regelmässig an die
Gegenseitigkeit halten würde, kann aller Erfahrung nach als ge-
wiss bezeichnet werden. Im Auslieferungsrecht mehr noch, als
in den übrigen internationalen Rechtsbeziehungen, in denen sie
wohl erkannt, aber noch unergründet ist, hat sich die Rezipro-
zität so fest eingewurzelt, dass ihre formelle Bestätigung und
Gutheissung für die Zukunft kaum erforderlich erscheint. Man
kann der Entwicklung freie Bahn lassen. Auch wenn ein deut-
sches Auslieferungsgesetz, wie man hoffen darf, in
nicht zu ferner Zeit die erwünschte einheitliche Regelung unseres
Vertragssystems und vor allem die richterliche Kontrolle oder
doch mindestens richterliche Gutachten über die Auslieferungs-
bewilligungen herbeiführen soll, wird man die Aufnahme oder
Nichtaufnahme der Reziprozitätsklausel nicht als fundamental
betrachten dürfen. Der englische Extradition Act hat die ge-
setzmässige Bindung an die Gegenseitigkeit vermieden, wohl in
der richtigen Empfindung, dass die Festlegung auf ein zwar
elastisches, aber zwingendes Prinzip im Einzelfalle hinderlich
werden könne, und dass sich in den Verträgen für seine Beob-
achtung hinreichend sorgen lasse. Die Politik wird es sicher
vorziehen, ihre Reziprozitätsinteressen selbst zu wahren, statt die
Möglichkeit zu erkaufen, sich gelegentlich hinter einem legisla-
tiven Zwang verschanzen zu können, diesem dann aber auch un-