— 149 —
Literatur.
Joseph Kohler, Grundriss des Zivilprozesses. Stuttgart, Enke,
1907, 182 8.
Der „Grundriss“ einer Wissenschaft oder eines Zweiges einer Wissen-
schaft ist unter allen Umständen ein Werk, welches die heterogehsten Eigen-
schaften in sich vereinigen muss. Er muss populär, d. h. leicht verständ-
lich sein: denn er ist ja in erster Linie für die Anfänger, die imbecilli be-
stimmt. Er muss aber auch den Meistern gefallen. Denn der Grundriss
enthält mehr wie andere Werke reine, konzentrierte Wissenschaft: er muss
das Wesen und die Grundbegriffe der Lehre enthalten. Er muss kurz sein,
darum heisst er Grundriss; er bringt nur Gedanken, von grosser systema-
tischer Bedeutung, während er Gedankenreihen sekundärer Natur nicht auf-
nehmen kann. Seine Stärke liegt in der systematischen Geschlossenheit.
So ist er eine Lektüre für den wissenschaftlichen Feinschmecker ebenso wie
für den, der erst in den Bau der Wissenschaft eindringen will.
In einem solchen Grundrisse behandelt KoHLer den Zivilprozess. Der
Grundriss soll, wie aus der Vorrede ersichtlich ist, eine wissenschaftliche
Leistung sein: er soll das Lehrbuch vorbereiten; er soll neuen Ideen der
Theorie des Zivilprozesses, die ja leider mit ganz unglaublicher Langsam-
keit sich entwickelt, den Weg bahnen — er will reformierend wirken. Aus
diesem Grunde rechtfertigt sich auch eine besondere Kritik des Werkes —
sie ist notwendig! — vom wissenschaftlichen und vom praktischen Stand-
punkte aus, vom Standpunkte der Wissenschaft aus wie vom Standpunkte
des Schülers, der hier Belehrung schöpft.
Zunächst vom wissenschaftlichen Standpunkte aus! Das System KOHLERS
ruht bekanntermassen auf der Definition KoHLERs, dass der Prozess ein
Rechtsverhältnis sei. KOHLER sagt stolz in der Vorrede:
„meine konstruktiven Ideen bedürfen keiner Rechtfertigung, sie haben
sich gerechtfertigt.“
Nun, m. E. ist dies etwas zu früh gesprochen!