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aus gleichgültig ist, kann von dieser Gegenseitigkeit gesprochen
werden. Und doch heisst es in den Formulierungen „annähernd
gleich“ !*, „wesentlich gleich“!° und ähnlich. Das unbestimmte
in den Definitionen beruht auf der Erkenntnis, dass fremde
Strafgesetzbücher unsere Strafnormen ebensowenig einfach über-
nehmen, wie das deutsche fremde; dass also jene Gegenseitigkeit
niemals vorhanden sein könnte. Denn mit jeder textlichen Ab-
weichung, mit jeder besonderen Auslegung wäre sie zunichte.
Und das hat sich nicht erst nach dem Abschluss unseres Straf-
gesetzbuchs in dieser Weise herausgebildet, sondern war von
jeher so!*. Man rechnete damit, als man die Gegenseitigkeit
als Strafbarkeitsbedingung aufnahm. Daraus folgt, dass man
unter Gegenseitigkeit nicht jene absolute Gleichheit der Straf-
normen verstehen konnte, sondern ein mehr oder weniger gleich
als hinreichend ansah. In den Gesetzbüchern einiger fremden
Staaten fanden sich Bestimmungen, die den deutschen zwar
nicht gleich, aber doch ähnlich waren, die sich in gleicher Rich-
tung bewegten, und ausserdem wünschte man, dass dem deut-
schen Vorgang andere Staaten bei Erlass von Strafgesetzen
folgen und ihrerseits entsprechende Bestimmungen schaffen
würden !". An wörtliche Uebereinstimmung war dabei nirgends
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14 RÜDORFF-STENGLEIN Note 7 zu $& 102.
15 OLSHAUSEN-ZWEIGERT Note 2 zu $ 102; ebenso die Entscheidung
des Reichsgerichts in Strafsachen Bd. 88 S. 77.
ı# Das preussische Strafgesetzbuch vom 14. April 1851 (Preussische Ge-
setzsammlung 1851 S. 101), dem die heutigen $$ 102, 103 entnommen sind,
stellt in seinen entsprechenden $$ 78, 79 bereits die Gegenseitigkeitsklausel
auf. Deren interessante Entstehungsgeschichte siehe bei GOLTDAMMER, Ma-
terialien Note 1 zu $ 78. Vgl. ferner BERNER, Deutsches Strafrecht S. 536
Anm. 1 und v. MarTITZ, Rechtshilfe Bd. 1 S. 429 Anm. 5 sowie die dor-
tigen Verweisungen. — Nach anderer Richtung von Interesse ist der Auf-
satz: „Ueber die Erfordernisse der Reziprozität in Beziehung auf das Aus-
land“ 1855 in dem Archiv für preussisches Strafrecht (begründet von GOLT-
DAMMER) Bd. 3 S. 91 fg., der sich mit $269 des preussischen Strafgesetz-
buchs beschäftigt.
1? Die Motive (siehe den „Entwurf eines Strafgesetzbuchs für den Nord-