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sich nicht streng auf seinen Gegenstand, sondern enthält viel mehr als durch
den Titel angedeutet wird. So erhalten wir denn, noch bevor der Verfasser
auf sein Thema kommt, auf beinahe hundert Seiten die ganze vorrevolutio-
näre Entwicklungsgeschichte der Lehren von der konstituierenden Gewalt,
die in ihren Wurzeln bis zu Plato und Aristoteles hinabreicht und in in-
nigem Zusammenhang mit den Theorien von der Volkssouveränetät steht,
die ebenfalls aus antikem Vorstellungskreis stammend, in den politischen
Kämpfen der mittleren und neueren Zeit ihre grosse, die Geister beeinflus-
sende Bedeutung enthüllt hatten.
Aber auch weiterhin ist im Zusammenhang mit den Lehren der fran-
zösischen Theoretiker des pouvoir constituant die Frage nach der Verfas-
sung Frankreichs unter dem ancien regime in eingehender historischer
Untersuchung erörtert. Ferner findet das Problem der Menschenrechte, das
nit dem Thema des Werkes zusammenhängt, ohne mit ihm zusammenzu-
fallen, eine gründliche Darstellung. Dazu kommen noch in den Noten lx-
kurse über Materien, die nur entferntere Beziehungen zu dem Hauptgegen-
stand der ZweEIGschen Untersuchung aufweisen. Das alles wird sorgfältig
durch eine sehr umfangreiche Literatur belegt, so dass dem Leser eine
Stofffülle entgegentritt, die manchmal sogar verwirrend wirkt. Man sieht
es dem Buche an, dass der Autor alles, was er auf dem Herzen hatte, los
werden wollte und eine Selbstbeschränkung in dieser Hinsicht, ein Auf-
sparen eines Teiles des reichen Materials für andere, selbständige Unter-
suchungen hätte vielleicht der Wirkung des Werkes zum Vorteil gereicht.
SIEYES hat für sich das Verdienst in Anspruch genommen, den Gegen-
satz von konstituierender Gewalt und den konstituierten Gewalten entdeckt
und in die Theorie und Praxis des Staatsrechts eingeführt zu haben. Diese
leiten ihr Dasein und ihre Berechtigung von jener ab, die stets und unver-
rückbar den letzten Grund der vorhandenen Staatsordnung bildet. Anden
Namen SıEeyks wird denn auch häufig noch heute die Lehre von dem Unter-
schied beider Arten von Gewalten angeknüpft. Es wird ZweEIq nicht schwer,
die Unrichtigkeit der Behaüptung des selbstgefälligen Mannes nachzuweisen,
dessen grösste Tat jene kleine Flugschrift über den dritten Stand geblieben
ist. Doch verhält sich der Verfasser keineswegs gegen den einst so ge-
feierten, später in tiefe Vergessenheit geratenen Doktrinär der Revolution
bloss ablehnend, würdigt ihn vielmehr eingehender als es sonst in der über
ihn so schweigsamen deutschen Literatur der Fall ist. Dabei mag die merk-
würdige Tatsache erwähnt werden, dass die einzige Gesamtausgabe der po-
litischen Werke SıeyYks die 1796 in deutscher Uebersetzung erschienene ist,
zu welcher der Autor selbst biographische Notizen geliefert hat. So wenig
hat Frankreich den unbedachten Ausspruch ratifiziert, mit dem der eitle
Mann seine literarische Bedeutung einschätzen zu können glaubte: „La
politique est une science que je crois avoir achevee“!
Von den Männern, welche vor und neben SıEyks die Lehre von der