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12. Die neueren Verträge über Auslieferung enthalten sonst
den Grundsatz der Reziprozität nicht mehr in dieser ausdrück-
lichen Form. Aber bringen sie auch nicht den formellen Hin-
weis auf sie, so sind sie doch materiell auf ihr als ihrem Grund-
gedanken aufgebaut. Wenn man das geltende deutsche, und von
diesem wiederum besonders das Reichsauslieferungsrecht einer
Prüfung unterzieht, ob und in welcher Weise die Korrespekti-
vität der beiderseitigen Zugeständnisse zum Ausdruck gekommen
ist, so wird man schon durch die äussere Anlage der Verträge
zu einem Rückschluss auf das gestaltende Gegenseitigkeitsprinzip
geführt. Und dieser Schluss findet die Bestätigung seiner Rich-
tigkeit in den Motiven der deutschen Unterhändler, die sich aus
den Denkschriften, mit denen die Konventionen dem Reichstage
vorgelegt wurden, ergeben. Hier wird ersichtlich, dass der Invi-
zinitätsgedanke beim Abschluss der Verträge als bindende Norm
anerkannt wurde und Beobachtung finden sollte. An diese Wahr-
nehmungen allgemeiner Art schliessen sich Folgerungen aus
Merkmalen des materiellen Details der Verträge, sodass man
v. Marrtızz, Rechtshilfe Bd. 1 S. 192 Anm. 32. Später hat England zu-
weilen, wie in den Konventionen mit Spanien vom 4. Juni 1878 (Art. 1.)
und nach diesem Vorbild mit Luxemburg vom 24. November 1880 (Art. 1)
und der Schweiz vom 26. November 1880 (Art. L), sich für seinen
Standpunkt verpflichtet, auch Nationale auszuliefern, während die Gegen-
seite von dieser Verbindlichkeit freiblieb. Dies war ein „bis dahin in Eng-
land unerhörtes Expeditiv, auf die Reziprozität der beiderseits übernommenen
Verbindlichkeiten in diesem Punkte zu verzichten“. Eine Beurteilung der
Bedeutung dieses Verzichtes siehe bei v. MArTıTz, Rechtshilfe Bd. 1 S.
198; ferner LAMmMAScH, Auslieferungspflicht S. 394 ; BIRON-CHALMERS p. 13.
Vergl. auch oben S. 17. .
Interessant ist in dieser Beziehung ferner das Verhältnis zwischen Bel-
gien und den Niederlanden. Belgien war nach seinem Ausliefe-
rungsgesetz an Reziprozität gebunden, und in den Niederlanden war nach
dem Fremdengesetz vom 13. August 1849 der Begriff der Nationalen ein sehr
weiter. So enthält der zwischen den beiden Staaten am 3. Oktober 1862
abgeschlossene Vertrag eine merkwürdige Verklausulierung in der betreffen-
den Bestimmung. Siehe dazu TAunaYy p. 139 und p. 132 Note 1; DE JoNngGE
p. 189, 180; v. Marrırtz, Rechtshilfe Bd. 2 S. 26.