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und gar noch solche Halbtöne, in denen alles zerfliesst* — knüpft er die
Bravade: gerade dafür trete er ein. „Die ganze Arbeit der Rechtswissen-
schaft“, führt er in S. 196 aus, „ist auf die Erkenntnis der Erscheinungen
gerichtet, die sie beobachtet. Der Wert der Rechtsbegriffe liegt also nicht
darin, dass sie fest abgegrenzt sind, sondern darin, dass sie mit den tat-
sächlichen Erscheinungen, aus .denen sie abgezogen sind, übereinstimmen,
Sie können deshalb nur insoweit fest abgegrenzt werden, als eben diese tat-
sächlichen Erscheinungen selbst fest abgegrenzt sind. Wo es in der Welt
der Tatsachen fliessende Grenzen, Uebergänge, Mischformen, »Halbtöne«
gibt, dort darf auch die Wissenschaft vor der Konstatierung dieser Er-
scheinungen nicht zurückschrecken“, d.h. ihre Begriffe müssen ebenso ver-
schwommen sein. „Eine Naturwissenschaft, die den Begriff des Tieres von
dem der Pflanze scharf abgrenzt, ist wertlos, so lange sie nicht imstande
ist, diese scharfe Grenze in der Natur nachzuweisen. Dass es sich auf
dem Gebiete des Rechts anders verhält, darf nicht a priori angenommen
werden.“ Soweit der Verfasser.
Ich bedaure, seine Auffassung vom Wesen der Rechtswissenschaft und
von ihrem Verhältnisse zur Naturwissenschaft nicht teilen zu können.
Um Erkenntnis von Erscheinungen handelt es sich selbstverständlich
immer. Die Naturwissenschaft erhält die ihrigen von der Natur geliefert
mit dem ganzen Reichtum der Mannigfaltigkeiten, in denen diese sich zu
ergehen liebt. Sie bringt sie möglichst in übersichtliche Ordnung und
bildet dazu ihre schmiegsamen Begriffe. Die Rechtswissenschaft dagegen
hat es mit den vom Menschengeiste bewusst oder unbewusst geschaffenen
Ordnungen gesellschaftlichen Lebens zu tun. Diese Ordnungen sind Recht
nur, weil sie feste Regeln sind. Sie bedienen sich als vornehmsten Hilts-
mittels der Rechtsbegriffe, die Rechtsbegriffe nur sind, weil sie fest ab-
gegrenzte Begriffe sind. Man kann streiten darüber, wie weit das mensch-
liche Zusammenleben durch solche Regeln und Begriffe bestimmt, wie weit
der Willkür Spielraum gelassen werden soll. Aber soweit sie gelten, be-
reiten sie der Menschheit: ihren eigenartigen Segen nur dadurch, dass sie
eben das Feste und Bestimmte sind. Das mag dann starr aussehen, hart
empfunden werden, von einseitig entwickelten Aesthetikern auch als un-
schön. Nicht jedem enthüllt sich in diesen steifen Linien die „Freundliche
Schrift des Gesetzes, des menschenerhaltenden Gottes*. Die Naturwissen-
schaft aber für unsere Begriffe zum Vorbild nehmen, führt zu Unzuläng-
lichkeiten. Das „wirkliche Leben“, das uns der Verf. wieder einmal predigt
(S. 198, 199, 200, 201, 202, 203, 209 usw.), hat die Rechtswissenschaft selbst-
verständlich zu beachten. Es liefert ja den Stoff, der mit ihren Begriffen
und mit den sie verwendenden Einrichtungen zurecht gemacht und ge-
meistert: werden soll. Packt sie ihn falsch, so ist es nicht gut, Schlimmer
aber ist es auf alle Fälle, wenn sie ihn gar nicht packt. Das tut sie, wenn
sie aus. zarter Rücksicht für den Stoff nur mehr Begriffe zulässt, für die