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diesen hinaus in das öffentliche Recht, ja in gewissem Sinne in die Gebiete
der Politik und der Moral hinübergreifen !.
Der wahre Hüter des Öffentlichen Wohls ist im „Volksfeind® nicht
der Stadtvogt, der — wie es leider auch in vielen preussischen Landes-
teilen heute noch der Fall ist — gleichzeitig auch Inhaber der Polizei-
gewalt (endlich nebenbei auch Vorsitzender der Badeverwaltung) ist,
sondern das Öffentliche Wohl wird in Wahrheit gehütet von seinem
Bruder, dem Badearzt Dr. Stockmann. Nach dem Gutachten eines hervor-
ragenden Chemikers, dessen wissenschaftliche Bedeutung in dem Stücke
nirgends in Zweifel gezogen wird, ist die Wasserleitung des Bades völlig
verseucht und bedarf, wenn Infektionskrankheiten durch Baden und Trinken
verhindert werden sollen, einer gründlichen Reparatur, welche, da eine Klär-
anlage gebaut werden und eine Umiegung der Wasserleitung stattfinden
müsste, mehrere hunderttausend Kronen kosten würde. Der Bürgermeister
ist aber mit der Erneuerung der Wasserleitung in diesem Sinne nicht ein-
verstanden aus dem doppelten Grunde der Kostspieligkeit derselben sowie
der eventuellen Notwendigkeit, das Bad zum Zwecke der Vornahme der
Arbeiten mehrere Jahre stillzulegen und so die Badegäste zu verscheuchen.
Im Widerspruch mit seiner Pflicht, das öffentliche Wohl und in erster
Reihe nur das Öffentliche Wohl zu wahren, stellt er damit das finanzielle
Privatinteresse der Gemeindedem öffentlichen Wohle der Ge-
samtheit — nämlich der Schaffung gesunden Trink- und Badewassers —
voran, und nicht genug damit: Um seiner, zum Teil auch aus persön-
lichen Gründen diktierten, in Wahrheit gegen das öffentliche Wohl ge-
richteten Stellungnahme zum Siege zu verhelfen, bringt er durch die Dro-
hung mit neuen Steuern und mit der Stilllegung des Bades auch die
öffentlicheMeinung mittels Beeinflussung der bisher oppositionellen
Presse und des Hausbesitzervereins sowie durch persönliches Eingreifen in
einer von dem Badearzt einberufenen Volksversammlung auf seine Seite.
Demgegenüber vertritt der Badearzt vom Anfang bis zum Schluss mit aller
Entschiedenheit den Standpunkt, dass die von vornherein verfehlt angelegte
ı Das Preussische Oberverwaltungsgericht z. B. hat, soviel wir sehen
können, nur an etwa drei Stellen einen Unterschied zu machen versucht
zwischen dem Recht der Allgemeinheit („öffentliches Wohl“) und dem
„finanziellen Privatinteresse* einer einzelnen Gemeinde. In Bd. 22 S. 307
der Sammlung heisst es nämlich, für das Privatinteresse einer Ge-
meinde habe die Polizeibehörde nicht einzutreten (es handelte sich um die
Gefährdung eines der Gemeinde gehörenden Wiesenbewässerungswerkes
durch vom Hochwasser fortgerissene Steine eines andern Wehrs und um
die Versandung eines gleichfalls der Gemeinde gehörenden Wiesenbewäs-
serungsgrabens). Ferner ist von dem Unterschiede die Rede in Bd. 32,
S. 266 und Bd. 52, S. 351 der Sammlung.