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ich auch.“ Andere Bürger stellen sich von vorneherein aus dem Grunde
dem Badearzte feindlich gegenüber, weil sie in der Zeitung gelesen
haben, dass er Unrecht hat, oder weil ihm kein Verein der Stadt sein
Lokal zur Verfügung stellen wollte; aber kein einziger aus der
grossen Masse hat den Mut, sich von vorneherein seine eigene
Ueberzeugung zu bilden oder auch nur sich objektiv zu verhalten! Der
Boden ist also von vorneherein für den Badearzt, der die Versammlung
einberufen hatte, gerade infolge der Unselbständigkeit des einzelnen
Durchschnittsstaatsbürgers und seiner geistigen Abhängigkeit einerseits von
behördlicher, anderseits von parteilicher Bevormundung, so ungünstig wie
nur möglich. Der Bürgermeister als Vertreter der behördlichen Autorität
im Verein mit den Parteihäuptlingen Hovstad und Aslaksen als Vertretern
einseitiger Partei- und Interessenpolitik nutzen denn auch diese Situation
nach Kräften aus, indem sie — und hierbei kommen wir wieder recht
eigentlich auf das juristische Gebiet — es meisterlich verstehen, den
Badearzt mundtot zu machen und ihn an der Darlegung des wahren Sach-
verhaltes coram publico zu verhindern. Es ist ausserordentlich interessant,
zu sehen, mit welchen Mitteln. Als der Badearzt Dr. Stockmann in seiner
Eigenschaft als Einberufer und Veranstalter der Versammlung die Leitung
derselben übernehmen und sie eröffnen will, stellt sofort Aslaksen den An-
trag, dass ein Vorsitzender gewählt werden möge. Da der Bürger-
meister diesem Antrage nicht beitritt, erheben sich sofort „mehrere Stimmen
aus der Menge“, welche nach einem Vorsitzenden rufen. Aslaksen wird
durch Akklamation zum Vorsitzenden gewählt, während der Badearzt selbst
das Rednerpult verlässt und — nach der zutreffenden Auffassung des
Düsseldorfer Schauspielhauses — unter den Versammelten Platz nimmt.
Die Leitung der Versammlung durch einen Beauftragten der Majorität
bringt es dann — obschon der Vorsitz nicht eigentlich parteiisch ge-
führt wird! — natürlich zuwege, dass der Vorschlag des Bürgermeisters,
dem Badearzte den Vortrag des wahren Sachverhaltes nicht zu gestatten,
durchdringt, und dass im weiteren Verlauf der Versammlung die kompakte
Majorität auf Anstiften des Bürgermeisters im Verein mit den Partei-
häuptlingen dem Einberufer der Versammlung das Wort entzieht. Wir
sehen hier vor uns die Folgen der im modernen Rechtsstaat von soziali-
stischer und ultra-demokratischer Seite stets geforderten sogenannten
„Bureauwahl® in öffentlicher Versammlung. Das neue Vereinsgesetz hat
diese Klippe geschickt zu umsegeln gewusst, so dass es in einer öffent-
lich-politischen Versammlung in Deutschland heute unmöglich ist, den Ein-
berufer gegen seinen Willen von der Mehrheit der Versammelten abhängig
zu machen. Der ursprüngliche Entwurf des Vereinsgesetzes enthielt zwar
lediglich die Bestimmung: „Jede Versammlung .... muss einen Leiter
haben“, und überliess, wie in den Motiven ausdrücklich bemerkt ist, „die
Entscheidung über die Form der Bestellung des Leiters dem Ermessen