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letzten Akte vom Stadtvogt erfährt — ein Testament zu Gunsten der Kinder
des Badearztes gemacht mit der Massgabe, dass letzterer und seine Frau
an der Erbschaft die lebenslängliche Nutzniessung haben sollen. Ausserdem
hat der Gerbermeister aber einen bestimmten Betrag seines Vermögens
dazu verwendet, eine Stiftung für alte bedürftige Handwerker zu begründen.
Für das im Testament dem Badearzt und seiner Familie verschriebene Geld
endlich hat er Aktien der Badeanstalt gekauft. Die Drohung des Gerber-
meisters nun, diese Aktien unter Anullierung der letztwilligen Verfügung
der Stiftung zu überweisen, wird vom Dichter in ausserordentlich geschickter
Weise dazu verwertet, die an den Badearzt herantretende Versuchung, aus
Rücksicht auf sich und seine Familie sich selber untreu zu werden, in dra-
matisch wirksamer Weise zu steigern und seinen spätern Sieg zu einem
um so eiudrucksvolleren zu gestalten.
Die Begriffe der Kündigung und Entlassung sowie der wirt-
schaftlichen Boykottung endlich werden im letzten Akt gleichfalls
mehrfach dazu benutzt, den Opfermut und die Ueberzeugungstreue des
Badearztes in lebhaften Farben zu schildern. Obschon der Familie die
Wohnung, der Tochter ihre Stelle als Lehrerin und dem Freund und Be-
schützer des Hauses, Kapitän Horster, seine Stellung als Schiffskapitän der
„öffentlichen Meinung“ zu Liebe gekündigt werden; obschon ihm selbst
durch seinen Bruder, den Stadtvogt, gar die sofortige Entlassung aus den
Diensten des Bades überbracht und ihm gleichzeitig mitgeteilt wird, dass
der Hausbesitzerverein ihn auch für die Privatpraxis auf die schwarze
Liste gesetzt hat, bleibt Dr. Stockmann doch bei dem einmal gefassten
Vorsatz, sich weder „von der öffentlichen Meinung‘ noch von der „kompakten
Majorität“ und ähnlichen „Teufeleien“ aus dem Felde schlagen zu lassen
und den noch unentwickelten Köpfen begreiflich machen zu wollen, „dass
die Parteiprogramme alle jungen, lebensfähigen Wahrheiten erdrosseln.‘“
Wir aber wollen, gerade weil es unzweifelhaft richtig ist, dass einer
allein — mag er noch so sehr im Rechte sein! — die kompakte Majorität,
wenn sie im Bunde mit der herrschenden Bureaukratie auftritt, niemals
äusserlich überwinden kann, auch der juristisch-technischen Betrachtnng
des „Volksfeind“ die Lehre entnehmen, dass aufrechte Männer nötig
sind, welche durch ihren Zusammenschluss der überwuchernden ver-
bündeten Bureaukratie und Parteiherrschaft die Giftzähne ausbrechen. Mag
der einzelne allein für sich im Kampf gegen diese beiden schlimmsten
Schädlinge des heutigen öffentlichen Lebens gar leicht erlahmen und in
die Gefahr geraten, von der öffentlichen Meinung und der kompakten Majo-
rität als Ketzer verschrieen zu werden: Manche morsche Mauer, an welcher
der einzelne allein sich den Kopf einstösst, manches Vorurteil des Polizei-
staats und der Parteischablone, wird dem gleichzeitigen Ansturm
vieler Einzelnen weichen und eine Bresche schaffen für unsern Aut-
schwung vom unfreien zum freien Volk!