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lieferungsdelikt gelten, wenn der gleiche Tatbestand nach deut-
schem Strafrecht strafbar ist. Hier, wo sich das Gemeinsame
aus beiden Strafrechten nicht in eine einheitliche Formel bringen
liess, findet sich der auch sonst vielfach wiederkehrende Zusatz,
der die beiderseitige Strafbarkeit als Bedingung der Ausliefe-
rung postuliert und es im übrigen der Auslegung überlässt, fest-
zustellen, wieweit die gegebenen Tatbestände ihr genügen. Da
das englisch-amerikanische Strafrecht dem europäisch-kontinen-
talen eigenartig und selbständig gegenübersteht, waren hier die
Schwierigkeiten der Vereinheitlichung besonders gross. So wies
auch der preussische Bundesratsbevollmächtigte Friedberg
in der Reichstagssitzung bei der Beratung des englischen Ver-
trages darauf hin, dass es besonders schwer gewesen sei, „die
sich deckenden Begriffe derjenigen strafbaren Handlungen, die
zu der Auslieferung führen sollen, in dem Vertrage zu fixieren.“
Immer tritt das Bemühen in den Vordergrund, nur das aufzu-
nehmen, was beiderseits strafbar ist. Die Denkschrift zu dem
deutsch-schweizerischen Auslieferungsvertrag von
1874 begründet den Wegfall eines Auslieferungsdeliktes, das der
Vertrag mit Italien von 1871 enthielt, folgendermassen ®: „In
Betreff der in Nr. 23 des italienischen Vertrages aufgeführten
strafbaren Handlungen der Schifisführer und Schiffsmannschaften
auf Seeschiffen konnte die Schweiz, ihrer Strafgesetzgebung zu-
folge, keine Reziprozität gewähren. Es musste daher von diesem
Vergehen abgesehen werden.“ In der Schweiz, einem mit dem
Meere nirgends in Berührung kommenden Land, sind solche
Vergehen nicht strafbar; folglich können sie nicht den Gegen-
stand einer Auslieferung bilden. Dieses Beispiel bietet besonderes
e* Stenographische Berichte über die Verhandlungen des deutschen
Reichstages, 1. Legislaturperiode, IIl. Session 1872, Bd. 2 S. 647.
65 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des deutschen
Reichstages, 2. Legislaturperiode, I. Session 1874, Bd. 8 Aktenstück Nr. 16
S. 127.