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Verwendung von Bezeichnungen wie „freies Ermessen“, „öffent-
liches Wohl“, „allgemeines Beste*, „die Behörde kann, darf, ist
ermächtigt“ u. dgl. (Das freie Ermessen und seine Grenzen S. 79 ff.)
Solche Worte können entweder eine Vollmacht zu freiem Ermessen
gewähren, also eine materielle Lücke schaffen, die durch Opportu-
nitätserwägungen auszufüllen ist, oder sie können, etwa durch
stillschweigende Berufung auf Erfahrungssätze oder natürliche
Rechtssätze, einen eindeutig bestimmbaren Befehl erteilen. Auch
hier muß die Interpretation zwischen den beiden Alternativen ent-
scheiden. Leider ist mir diese Parallele zwischen der Stellung des
Gesetzes zur Rechtsfindung und seiner Stellung zum freiem Er-
messen in der zitierten Arbeit entgangen. Aber auch JUNG hat
bedauerlicherweise auf diese Erscheinung wie überhaupt auf das
freie Ermessen nicht geachtet.
Die vorangegangenen Erwägungen führen uns zu dem Ergebnis,
daß sich allerdings zahlreiche materielle Lücken im Recht finden,
wenn auch vieles, was JUNG und andere Vertreter der Rechts-
quellenbewegung hieher zählen, keine solche Lücke darstellt,
während es sehr lückenreiche Gebiete gibt, so das Verwaltungs-
recht, welche bis jetzt viel zu wenig gewürdigt worden sind.
2. Wenden wir uns nun der formellen Lückenlosigkeit
der Rechtsordnung zu. Zu diesem Begriff muß die herrschende
Rechtsquellentheorie ihre Zuflucht nehmen, um das Dogma von
der logischen Geschlossenheit des Rechtes verteidigen zu können.
Die Verteidigung ist wieder in einer doppelten Weise denkbar.
Zunächst kann die Meinung bestehen, daß eine Rechtsordnung
dann formell geschlossen sei, wenn sie für alle in ihr enthaltenen
materiellen Lücken irgend welche abgeleiteten Quellen für ver-
bindlich erklärt. In diesem Sinne könnte beispielsweise das
schweizerische Zivilgesetzbuch vermöge der bekannten Bestimmung
im Art. 1 als eine formell lückenlose Kodifikation alles in die
richterliche Kompetenz fallenden Rechtes hingestellt werden, auch
wenn sich noch so. viele materielle Lücken fänden.