— 297 ° —
ben und ragt weit über den Durchschnitt der zahllosen, dem Probleme der
Rechtsanwendung gewidmeten Arbeiten hervor. Den Verfasser hat, wie
er in der Vorrede sagt, ein starkes Bedürfnis nach methodischer Klarheit
und ein auf die Wirklichkeit des Rechtslebens gerichtetes Interesse ge-
leitet. Man hätte dies der Schrift ohnehin angemerkt. Auch könnte man
dem Endergebnis vorbehaltlos zustimmen, wenn Verf. die Natur seines
Leitsatzes richtig erkannt hätte und sich der Beschränkbarkeit seines An-
wendungsgebietes bewußt geworden wäre. Daß er dies nicht tat, ist das
Bedenkliche seiner scharfsinnigen Auseinandersetzungen.
Wenn der Jurist sagt: diese Eintscheidung ist richtig, so sagt er da-
mit: der Richter hat so entscheiden sollen. Was für ein Sollen kann
das sein? Da der Jurist urteilt, doch nur ein rechtliches Sollen. „Der
Richter soll so entscheiden wie der Durchschnittsrichter“ heißt dann also:
„Der Richter ist rechtlich dazu verpflichtet, es besteht ein Befehl für ihn,
so zu entscheiden und nicht anders.“ Verf. sträubt sich gegen diese Er-
kenntnis (S. 78, 94, 98). „Die vorgeschlagene Formel hat... nichts mit
einem Gesetzesbefehl an den Richter zu tun. Sie liefert nur ein metho-
disches Prinzip der heutigen Rechtspraxis.“ Aber da Verf. die moderne
Praxis nicht etwa bloß beschreiben, sondern mit einem Postulat an sie
herantreten will, so ist sein Leitsatz notwendig praktischer, und zwar
rechtlicher Natur. Damit fällt der Leitsatz unter die große Klasse der
durch Verweisungen entstandenen Rechtssätze, der Rechtsquellen mit
abgeleiteter Rechtssatzwirkung. Wie das Gesetz auf die Anschauungen
der Gesellschaft über öffentliche Ordnung, Anstand, Polizeimäßigkeit,
öffentliches Interesse, gute Sitten verweisen kann, so kann es auch die
Auffassung eines konstruierten Durchschnittsrichters für maßgebend er-
klären. Kann! Dem Verf. ist zugegeben, daß im Privatrecht die Rechts-
gewißheit, die Gleichmäßigkeit der Behandlung ein wichtigeres Gut ist als
die Durchführung des historischen Willens des Gesetzgebers, und darum
wird man hier die Verweisung auf eine sachverständige Durchschnittsauf-
fassung meist annehmen dürfen. Auch gibt es Fälle, wo sich das Gesetz wegen
seiner mißverständlichen Ausdrucksweise zu einer solchen Verweisung be-
quemen muß, da es über seine Macht ist, zu befehlen, es solle trotz seiner
Dunkelheit nicht mißverstanden werden, und machtloses Recht nicht gel-
tendes Recht ist. Aber jene Verweisung gilt nicht notwendig überall. Bei
der deutschen Reichsverfassung z. B. wird eine Verweisung auf die Auf-
fassung der Ausleger schwerlich der Sinn der Verfassung sein; von solch
unsicheren Zufällen werden die Gründer des Reichs ihre Rechte nicht ha-
ben abhängig machen wollen.
Halb mit Recht, halb zu Unrecht verwahrt sich Verf. gegen den mög-
lichen Vorwurf, „daß hier eine neue Art von ‚Normen‘, die ‚Gesetze der
Praxis‘, an Stelle der freirechtlichen oder kulturellen oder ähnlichen Nor-
men eingeführt würden“ (S. 118). Zu Unrecht: denn die Auffassung des