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teilung das „freie Ermessen im Rechtssinn ist“ („die vom Recht mit Maß&-
geblichkeit ausgestattete, fehlerfrei zustande gekommene, individuelle An-
schauung über den Wert oder Unwert einer Verwirklichung‘). Solche im
Gesetz enthaltenen Fragen werden aber weiter beantwortet durch Ver-
weisung auf irgendwelche Sätze rechtlichen Inhalts, wie sie ausdrücklich
geschehen kann auf Normen einer fremden Rechtssatzung (vom Reichsrecht
auf das Landesrecht, auf fremdstaatliches Recht, Kirchen-, Völkerrecht) oder
durch Verwertung feststehender Grundsätze der Rechtswissenschaft. All
diesen erläuternden Rechtssätzen stellt Verf. gegenüber die feststellenden
(z.B. Feststellung der Landesgrenzen). Das Gesetz erscheint aber nicht
nur als Wirklichkeit und als Gedanke, sondern auch als Willenserklärung.
In dieser Eigenschaft hat es seinen Kern in der Erzeugung eines Sollens.
Der Rechtssatz als Befehl wird vom Verf. gemäß den Grundsätzen der
formalen Logik betrachtet nach seiner Modalität: Garantie des Rechtssatzes
(Rechtskontrolle und Zweckmäßigkeitskontrolle), nach seiner Qualität: Be-
jahung oder Verneinung (z.B. befehlend oder freiheitgewährend, gebietend
und verbietend), nach seiner Relation: Bedingung und Mehrgliedrigkeit, und
seiner Quantität: Umfang, wobei stets die besonderen Beziehungen des
freien Ermessens in die Erörterung mit einbezogen sind. — In einem zweiten
Kapitel behandelt Verf. die Gesetzesanwendung. Haupt- und Ausgangs-
punkt ist hier natürlich die Frage nach der Rolle des freien Ermessens.
Dies Kapitel ist nicht nur von dem allgemeinen Teile des Werkes das für
den praktischen Juristen interessanteste, sondern auch vielleicht gerade
wegen dieses Interesses das typischste für den „außerrechtlichen“ Charakter
der Aufgabe, wie ihn der Verf. sich gedacht hat. Praktisch sehr wichtig
ist z.B. der Gedanke, daß alle Auslegungsregeln Rechtsregeln sind, dem
praktischen Juristen gänzlich fernliegend eine eingehende Untersuchung
über die Frage: was ist ein „Einzelfall“? Und die den Juristen am nächsten
berührenden Einzeluntersuchungen über Auslegungsgrundsätze z.B. bei un-
klarem Gesetze werden ihm wieder gänzlich fern gerückt durch die sich
durch diese ganzen Erörterungen hinziehenden außerrechtlichen Verglei-
chungen der Tätigkeit des Juristen mit der des Historikers. Gerade in
diesem Kapitel läßt sich der Verf. in seinem Streben nach möglichst all-
seitiger Durchdringung der Materie von dem Reiz scharfsinniger begriff-
licher Zerlegung der an sich mit klarem Wirklichkeitssinn erschauten Er-
scheinungen des Rechtslebens so weit führen, daß vom Standpunkt der
Rechts- und Staatswissenschaft das von mir schon an anderer Stelle! aus-
gesprochene Urteil sich wohl nicht ablehnen läßt: Die Konturen der von
ihm ermittelten Erkenntnisse wären klarer hervorgetreten, wenn er nicht
bestrebt gewesen wäre, sie von so vielen Seiten zu beleuchten.
Das „außerrechtliche“ Interesse, unter dem der Verf. seine Aufgabe
! Frankf. Ztg. Lit.-Bl. v. 30. Nov. 1913.