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Reichsgesetz und Landesgesetz nach Öster-
reichischer Verfassung.
Von
Dr. Hans KELSEN, Privatdozent an der Universität in Wien.
(Schluß.)
$ 7. Identität oder Verschiedenheit der norm-
setzenden Autorität ın Reich und Land.
Daß die herrschende Lehre, sofern sie den Grundsatz der
lex posterior im Verhältnis zwischen Reichs- und Landesgesetz an-
wendet, sich nicht bewußt ist, daß nur die Identität von Reichs-
und Landesgesetzgeber die Anwendung dieses rechtslogischen Prin-
zipes rechtfertigt, wurde bereits eingangs hervorgehoben. Aus der
Parität beider Normarten glaubt man vielmehr die Geltung
der fraglichen Interpretationsregel ableiten zu können'®. Daß aus
der Parität, aus der gleichen Geltungskraft zweier Normen
nicht ihre gegenseitige Derogierbarkeit als logisches Interpre-
tationsprinzip folgt, erhellt — wie früher bemerkt — schon dar-
aus, daß dieses Prinzip nicht zwischen Normen verschiedener Sy-
steme, etwa zwisehen deutschen und französıschen Rechtssätzen,
oder zwischen Rechtsnormen und Moralnormen zur Anwendung
kommen kann. Allein auch dort, wo keine Identität von Reichs-
1% Vgl. z.B. SPIEGEL a. a.0. 8.419. JELLINEK a.a.0. 8. 36.