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Wie schon früher ausgeführt, könnte somit der Grundsatz lex
posterior derogat priori im Verhältnis zwischen Reichs- und Lan-
desgesetzen nur über positivrechtliche Anordnung gelten. Da das
67er Grundgesetz über die Reichsvertretung in keiner Weise
dem Landesgesetzgeber neben dem Reichsgesetzgeber eine Kom-
petenzhoheit einräumt und auch nicht im entferntesten die gegen-
seitige Derogierbarkeit von Reichs- und Landesgesetz vorschreibt,
kann der Grundsatz: Landrecht bricht Reichsrecht, auf Grund der
Reichsverfassung von 1867 — sofern man eben diese als oberste
und nicht weiter rückführbare Verfassungsrechtsnorm ansieht —-
nicht als gültig angenommen werden. Das Recht des Landes-
gesetzgebers, seine Kompetenz selbst (wenn auch nicht ausschließ-
lich) zu bestimmen, könnte nur auf $ 38 der Landesordnung zu-
rückgeführt werden: dieser aber ist mit der Reichsverfassung von
1867 unvereinbar.
Geht man somit von der Gültigkeit des Grundgesetzes über
die Reichsvertretung von 1867 aus — und dies ist, wie gezeigt.
nur möglich, wenn man es willkürlich zu einem originären Aus-
gangspunkt juristischer Konstruktion macht — dann ist die
Möglichkeit einer einheitlichen Verfassung für die im Reichsrate
vertretenen Königreiche und Länder gegeben. Dann ist jener
Doppelstandpunkt vermieden, der eine Norm gleichzeitig sowohl
gültig als auch ungültig erscheinen läßt, jene rechtslogisch un-
mögliche Konkurrenz zweier mit Kompetenzhoheit begabter Le-
gislativen. Mit der ausschließlichen Kompetenzhoheit des Reichs-
gesetzgebers erscheint der Landesgesetzgeber, dessen Wirkungskreis
durch Reichsgesetz umschrieben wird, überhaupt nicht mehr als
eine selbständige und oberste normsetzende Autorität, sondern nur
als ein Delegat oder Stellvertreter des Reichsgesetzgebers. Das
Verhältnis des Landesgesetzes zum Reichsgesetz erscheint dann
nach österreichischer Verfassung nicht wesentlich anders als das
analoge Verhältnis im Deutschen Reich und entspricht im Prin-
zipe durchaus dem Verhältnis der Verordnung zum Gesetze nach