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„soziologischen Jurisprudenz* muß so Selbstverständliches immer
wieder gesagt werden.
Und wie dieser Einwand, der die Unzulässigkeit eines Gegen-
satzes zwischen Recht und Wirklichkeit postuliert, das Wesen
des Rechtes ganz und gar mißversteht, so bedeutet der andere,
der die Möglichkeit eines \Widerspruches zwischen Recht und
Moral oder politischer Vernunft negiert, das völlige Verkennen
jener Kardinaleigenschaft des Rechtes, welche die moderne Rechts-
wissenschaft voraussetzen muß, wenn sie sich von der moralischen
und politischen Spekulation des Naturrechtes unterscheiden will:
des Positivismus. Stets offen bleiben muß die Frage, wel-
chem von beiden Prinzipien, dem des Naturrechtes oder jenem
des Positivismus., letzten Endes der Vorzug gebührt, zumal diese
Alternative in den Gegensatz der \Veltanschauungen und Charak-
tere mündet. Zweifellos sind es gegenwärtig gewisse durch die
politischen Verhältnisse verschärfte Mängel der parlamentarischen
Rechtserzeugung, die in der sogenannten „Freirechtsbe-
wegung“ eine Tendenz zu naturrechtlichen Prinzipien gezeitigt
haben. Die schwerfällige parlamentarische Maschine erzeugt die
erforderlichen Rechtsformen nicht prompt genug und scheint all-
mählich mit dem politischen Schwergewicht — das sich dezen-
tralisierend in die großen wirtschaftlichen Organisationen verlegt
— auch die moralische Kompetenz zur Rechtserzeugung zu ver-
lieren. Zumal in Oesterreich, wo die parlamentarische Maschine
infolge innertechnischer Mängel zum großen Teil „leer läuft“. Es
ist nur zu begreiflich, daß man im Bereiche der Rechtspraxis
müde wird, auf Normen zu warten, welche die zur Normgebung
kompetent erachtete Autorität zu produzieren sich für unfähig
erweist. Allein die Rechtstheorie kann, ohne zu ihrer Vor-
aussetzung in Widerspruch zu geraten, diesem von der Gesetzgebung
unbefriedigten Bedürfnis der Praxis nach zweckmäßigen Normen
keine neuen Befriedigungsmöglichkeiten öffnen noch aueh irgend-
welche von der Praxis benützte Notbehelfe rechtfertigen, solange sie
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