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Mehrheitswille als der Wille der Gesamtheit erscheint, so ent-
spricht das in Wirklichkeit nicht den Tatsachen. Vielmehr ist es
stets allein der Wille der Majorität, der zum Ausdruck kommt.
Daher ist ein Parlamentsbeschluß in Wirklichkeit eine Vereinba-
rung der Mehrheit: und wenn diese als eine Vereinbarung der
Gesamtheit auftritt, so ist das eine Fiktion. Aber diese Fiktion
ist notwendig, da „aus dem Willen einer Vielheit niemals ein
psychisch einheitlicher Willensakt entspringen, vielmehr nur ge-
mäß einer rechtlichen Ordnung ein juristisch einheitlicher Wille
gewonnen werden kann“’”. Die Geschäftsordnungen beruhen nun
auf Parlamentsbeschlüssen, sind mithin Vereinbarungen. Wesent-
lieh ist ihnen aber, wie erwähnt, daß sie objektives Recht schaf-
fen; sie gehören daher dem Typus der rechtsetzenden Ver-
einbarung an’!. Diese ist der Autonomie wohl ähnlich, scheidet
sich aber von ihr dadurch, daß sie für die Personengesamtheit,
welche sie schafft, Rechtspersönlichkeit nicht fordert’*; daher ist
die Geschäftsordnung auch nicht statutarisches Recht”.
Die Verwendung dieses Begriffs beseitigt immerhin noch
nicht alle Schwierigkeiten. Denn nach wie vor scheint das Eigen-
tümliche der parlamentarischen Geschäftsordnung darin zu liegen,
daß sie objektives Recht ist, welches „von derselben Macht, die
sie vorgeschrieben hat, auch gehandhabt wird“ ’*. Klar wird ihr
Wesen erst, wenn man an der oben entwickelten Zweiung zwi-
schen Gesamt- und Teilorgan, sowie daran festhält, daß der Ma-
joritätswille, der die Vereinbarung erzeugt, Wille der Gesamtheit
ist. Die Gesamtheit setzt daher für ihre Mitglieder Recht, das
auch im Namen der Gesamtheit gehandhabt wird.
Die Literatur erkennt den Begriff der rechtsetzenden Verein-
7° JELLINEK a. a. O.; TRIEPEL 57.
?ı Zu diesem Begriff TRIEPEL 61/2.
?8 ANSCHÜTZ a. a. O.
73 So JELLINEK, Syst. 169; a. M. LaBAanD I 344.
”%* JELLINEK Schr. II 254.