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Sonderrechtsordnung nennt man Disziplinarrecht. Sein Charak-
teristikum wird durch seinen Ursprung aufgedeckt.
Es verdankt seine Ausbildung dem Kirchenrecht”. Von
den beiden Bedeutungen des Worts disciplina, nämlich Wissens-
zweig und Zucht, kommt hier naturgemäß nur die zweite in Be-
tracht.. Dabei ist zu scheiden die Disziplinargewalt, die die
Kirche gegen ihre Glieder anwendet und die auf der Vorstellung
beruht, daß das Verhältnis zwischen ihnen und der Kirche das-
selbe sei, wie zwischen Eltern und Kindern, die sog. Kirchenzucht,
also eine „erzieherische Tätigkeit“, und die Disziplin über ihre
Beamten. Diese äußert sich: dureh das Mittel der Kirehenzucht,
„um sie zur Erfüllung ihrer Pflichten zu nötigen“, durch Strafen,
welche den Beamten als solchen treffen sollen (Disziplinarstrafen),
endlich durch Buße. Daraus folgt für das Kirchenrecht: Dis-
ziplin ist die der Kirche zustehende Gewalt zur Aufrechterhaltung
von Zucht und Ordnung unter ihren Gliedern einerseits und denen
von ihnen, die in einem besonderen Unterwerfungsverhältnis zu
ihr stehen, ihren Beamten andrerseits.
Von hier dringt der Begriff ins weltliche Recht. Ausgebildet
wird er dort erst in neurer Zeit'”, als akademische Disziplin, als
Beamten-, Anstalts-, Parlamentsdisziplin. Die diese Lebensver-
hältnisse verbindende Gewalt, der die von ihnen ergriffenen Per-
sonen unterworfen sind, pflegt teils bei der Gesamtheit dieser
Personen zu verbleiben, teils einer von ihnen oder einem Kolle-
gium übertragen, teils an besondere Einrichtungen, die Disziplinar-
gerichte, vergeben zu sein. Rechtsgrund für die Unterwerfung
unter jene Gewalt ist meist die staatliche Rechtsordnung. Der
9” LABES AnnDR. 1889 213.
®8 FRIEDBERG, Lehrbuch des katholischen und evangelischen Kirchen-
rechts, 6. Aufl. 1909 8.313. Dieses und das folgende gilt auch für das evang.
Kirchenrecht, das sich hier an das kath. eng anlehnt; s. FRIEDBERG 336 ff.
» DERS., 314.
100 LABES a. a. O. 213.